© Phenomen Film

„DAU. Natasha“ (Wettbewerb) und „DAU. Degeneratsia“

DAU. Natasha und DAU. Degeneratsia zählen zu den intensivsten, buchstäblich bildgewaltigsten Beiträgen der diesjährigen Berlinale. Sie werfen für das Festival und nicht zuletzt auch das Publikum aber auch grundsätzliche Fragen filmkünstlerischer Verantwortung und kuratorischer Ethik auf, die kaum aufzulösen, nur auszuhalten sind.

Die Vorbereitungen zu dem megalomanischen Kunstprojekt DAU starteten bereits Mitte der 2000er Jahre. Ziel war es, das Leben des sowjetischen Physikers und Nobelpreisträgers Lew Dawidowitsch Landau (1908–1968, Spitzname Dau) in der Stalin-Zeit filmisch zu rekonstruieren. In der Ukraine wurde hierfür auf 12.000 Quadratmetern eine abgeschlossene künstliche Lebenswelt geschaffen, in der zwischen 2009 und 2011 bis zu 400 Menschen lebten und unter gewissen narrativen Anleitungen auch als Schauspieler und Statisten agierten. Dabei entstanden 700 Stunden (!) Filmmaterial, gedreht auf 35 mm, sowie eine Vielzahl weiterer Zeugnisse, die seit Ende der Dreharbeiten nach und nach künstlerisch ausgewertet und in geeigneter Form veröffentlicht werden.

Die beiden aus dem DAU-Konvolut ausgekoppelten Filme DAU. Natasha und DAU. Degeneratsia, die im Wettbewerb bzw. als Special auf der Berlinale liefen, haben nun eine erhitzte, gleichwohl notwendige Diskussion um künstlerische Freiheit und Verantwortung, Grenzen des Konsensualen und Zeigbaren angestoßen. Dabei geht es unter anderem um eine drastische, frei improvisierte Verhörszene: der Wille der Protagonistin Natasha soll durch ein Wechselspiel von väterlicher Vertrautheit, Einschüchterung und Erniedrigung, bis hin zu einer (angedeuteten) Vergewaltigung mit einer Cognacflasche, gebrochen werden, um sie zur Kooperation mit der Staatssicherheit zu zwingen. Weitere Vorwürfe betreffen angebliche verbale Übergriffe und manipulative Strategien des kreativen Kopf des Projekts, Ilya Khrzhanovskiy, sowie äußerst fragwürdige Dreh- und Produktionsbedingungen.

Der Regisseur selbst, aber auch die auf der Berlinale präsenten Schauspielerinnen und sonstige Mitwirkende, haben alle Vorwürfe, dass es am Set zu echten Vergewaltigungen oder missbräuchlichen Vorfällen kam, strikt zurückgewiesen. Khrzhanovskiy sieht die Grenze der Kunstfreiheit darin, „dass alles freiwillig geschieht, und dass niemand physisch verletzt wird“. Und betont in einem anderen Interview: „Niemand wurde vergewaltigt. Das Universum von DAU ist nicht realistisch, die Gefühle sind realistisch.“ 

Es gäbe nun zwei vergleichsweise einfache Wege, sich in dieser Debatte zu positionieren. Wer meint, dass die Filme schon künstlerisch eine nähere Beschäftigung nicht lohnen, kann umso einfacher die Entscheidung der Berlinale-Leitung kritisieren, ihnen auf dem Festival so viel Präsenz zu gewähren. Die entgegengesetzte Haltung ist, den Kritikern pauschal zu unterstellen, sie hätten die Filme nicht gesehen oder verstanden und würden künstlich einen Skandal herbei schreiben. Beide Wege sind mir nach ingesamt rund neun – keineswegs kurzweiligen – Stunden Aufenthalt in der DAU-Welt versperrt.

DAU. Natasha ist ein intensives Kammerspiel über eine volatile Frauenfreundschaft

DAU. Natasha ist tatsächlich das stärkste, intensivste, was mir bisher auf der diesjährigen Berlinale begegnet ist. Dabei habe ich den Film vor allem als komplexes, berührendes Frauenportrait gesehen, als Studie einer volatilen Freundschaft zwischen Natasha (Natalia Berezhnaya) und ihrer jungen Kantinenkollegin Olga (Olga Shkabarnya), die von Empathie, Zärtlichkeit, Rivalität, körperlichen, beruflichen und sozialen Statusfragen, Liebe und Hass, aber auch dem politischen Umfeld, befeuert wird. Wenn Natasha nach Raufereien und scharfen Worten in einer ruhigen Minute mit Olga am Kantinentisch sitzt, sie mit Bier-Wodka-Kombinationen ins Delirium schickt und ihr dabei den Wunsch auf den Weg gibt, „dass Deine Liebe wie die Sonne ist, die Dich wärmt und versengt“ – ja, dann erglühe ich mit.

Die sich im letzten Filmdrittel anschließende, an den Nerven zerrende Verhörszene wirkt sehr realistisch, auch hinsichtlich der emotionalen Reaktionen der beiden Schauspieler, und erinnert zugleich mit Blick auf die Künstlichkeit des fiktionalen Rahmens, der Räume und Kostüme an ein rollenspielartiges BDMS-Setting. Sie mag bei klaren, konsensualen, auf Augenhöhe aller Beteiligten ausgehandelten Absprachen zum Verlauf und zu den individuellen Grenzen auch im Rahmen eines Filmprojekts akzeptabel sein – aber nur dann. Dabei ist es ähnlich problematisch, dies im Wissen um die kolportierten Drehbedingungen vorauszusetzen wie den involvierten Schauspielern die Mündigkeit und Eigenverantwortlichkeit pauschal abzusprechen.

Vladimir Azhippo, Natalia Berezhnaya in DAU. Natasha
© Phenomen Film

Ungeachtet dessen handelt es sich bei Dau. Natasha um ein künstlerisch beachtliches fiktionales Werk, das eindrücklich inszeniert, gefilmt und mit einnehmender Präsenz, hoher Energie und offenem Herzen gespielt wurde. In der Verdichtung auf 145 Minuten wird ein dramaturgischer Sog erzeugt, dessen Qualität fern von herkömmlichen Scripted Reality– und Improvisations-Formaten liegt. Scripted Surreality mag es besser treffen.

Um das Werk ausschließlich als Filmkunst rezipieren zu können, wäre es jedoch unabdinglich gewesen, dass das Team die Produktionsbedingungen vollkommen transparent macht, die Vorwürfe ernst nimmt und seriös erklärt, welche Vorbereitungen, Absprachen und „safeword“-Strategien es gegebenenfalls gab. Die Wild-West-Zeiten am Set und auf der Bühne sind im Jahr 2020 jedenfalls definitiv vorbei (und waren dies auch schon während des Drehs 2008 – 2011). Fragen zu Machthierarchien, ökonomischen, physischen und psychischen Zwangssituationen sowie ausbeuterischen Mechanismen vor und hinter der Kamera können nicht mehr pauschal mit Hinweis auf die Kunstfreiheit beiseite gewischt werden. Dem Publikum das Ratespiel aufzubürden, welche Emotionen, Aktionen und Reaktionen nun „echt“ oder „gespielt“, abgesprochen oder improvisiert waren, erscheint mir unverantwortlich. Ob das viele Geld, das in die Produktion geflossen ist, auch für einen Intimacy Coach und psychologische Betreuung aufgewendet wurde, muss man wohl bezweifeln. Das Problem liegt also weniger in dem, was vor der Kamera passiert, als in einigen mutmaßlichen künstlerischen Entscheidungen und produktionstechnischen Bedingungen, die – wie auch die Öffentlichkeitsarbeit – genauso anachronistisch wirken wie die Welt, die in DAU erschaffen wird.

Viktoria Skitskaya in DAU. Degeneratsia
© Phenomen Film

DAU. Degeneratsia handelt von Parteikadern, Forschern, Faschisten und anderen armen Schweinen

Gestern feierte nun DAU. Degeneratsia im Haus der Berliner Festspiele Premiere. Ein Werk, das deutlich vielschichtiger als Natasha, aber auch weniger zugänglich und stringent und als Spielfilm weniger reizvoll auf mich wirkte. Eine unverblümt gefilmte brutale Tierschlachtung war zwar für das Publikum äußerst strapaziös. Ihr Skandalisierungspotential verblasste aber neben der Frage, wie ethisch vertretbar es eigentlich ist, echte rassistische, homophobe Schlägertypen als Intensitätsverstärker für (naturgemäß überzeugend praktizierte) Bully-Rollen zu casten und ihnen breiten – wenn auch nicht unwidersprochenen – Raum zu geben, ihre kruden Männerphantasien zu verbreiten und auszuagieren. Aber klar, in den sechs zunächst gemächlich verstreichenden, dann zunehmend endzeitlich eskalierenden Filmstunden schlummert viel Personal, Stoff, Ideen- und Motivgewimmel, das der näheren Beschäftigung lohnt. So schnell wird man mit DAU nicht fertig.

Podiumsdiskussion in Anschluss an die Premiere von DAU. Degeneratsia
(Barbara Wurm, Prof. Dmitry Kaledin, Ilya Permyakov, Ilya Khrzhanovskiy, Viktoria Skitskaya)

Im Anschluss nutzte die für die Auswahl des Projekts mitverantwortliche Berlinale-Kuratorin Barbara Wurm ein Podiumsgespräch mit dem Team, um auf die anhaltende Debatte um das Kunstprojekt einzugehen. Aus Rücksicht auf den Wettbewerb und die Aufmerksamkeitskonkurrenz gegenüber anderen Filmen sei erst jetzt der richtige Zeitpunkt, hierauf umfänglicher zu reagieren. Wurm zeigte sich irritiert über die Intensität der Kritik und bemerkte auch eine ihrer Sicht nach übertriebene, wenig fundierte mediale Skandalisierung. Im Saal war die Stimmung, auch mit Blick auf die Vielzahl an anwesenden DAU-Mitwirkenden, klar gesetzt. Jeder am Projekt Beteiligte habe schließlich gewusst, worauf er sich einlasse. Die von einer Haaretz-Journalistin gestellte Frage nach Empfindungen von Erniedrigung und Angst während des Drehs sowie nach Angeboten psychologischer Betreuung wurden ausweichend bis belustigt beantwortet. Khrzhanovskiy verstieg sich gar zur Aussage, die Liebe des Produktionsteams vor Ort habe hinreichend Gewähr für eine psychologische Betreuung geboten. Erstaunlich naiv oder mit allen Wasser gewaschen?

Weit nach Mitternacht schlurfe ich, ausgepowert von bereits neun Berlinale-Tagen, ratlos, mit trockenen Augen und etwas benommen von dem ausufernden Sichtungs-Exerzitium zur U-Bahn und hoffe auf eine traumlose Nacht.

Weitere Beiträge
Es klingt ein Lied von Nirgendwo: „La morte scende leggera“