In Birds, einem fabelhaften Bilderbuch mit Portraits und Gedanken komischer Vögel, spürt Johanna Thompson den allzu menschlichen Neurosen unserer Gesellschaft nach.
In seiner Fotografie-Serie Rich and Poor nahm der US-amerikanische Künstler Jim Goldberg Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre Familien, Paare und Individuen aus San Francisco auf. Die Portraitierten erhielten die Gelegenheit, die Aufnahmen in handgeschriebenen Notizen um ihre Sicht auf ihr Leben, ihre Hoffnungen, Träume und Ängste zu ergänzen. Der über das Bild vermittelte Eindruck wurde so verstärkt, verrückt oder auch ins Gegenteil verkehrt. Selbstinszenierung, schöner und hässlicher Schein, Wahrheit und Illusion, Ambition und Entblößung, die Konfrontation von erstem und zweiten Blick: Vieles, was Goldbergs Arbeit so aufregend und vielschichtig machte, findet sich auch in dem im Jahr 2019 erschienenen Bilderbuch Birds von Johanna Thompson.
The owls are not what they seem
Twin Peaks (David Lynch & Mark Frost)
In Birds begegnen wir Vögeln, die nicht relaxen können. Die über den Sinn des Lebens philosophieren, über Herkunft, Sexualität, Familie und Alter grübeln, auf stur schalten, stolz, einsam, egozentrisch, melancholisch oder neurotisch sind. Ein Kaiserpinguin stellt die Theodizee-Frage. Ein Rosenwaldsänger beklagt die Gentrifizierung. Ein Tukan will nicht auf sein Äußeres reduziert werden.
Und Femke, eine Krontaube, bekennt …
There is a black hole inside
Femke, crowned pigeon
my heart that sucks all the light
and oxygen out of my day.
It never stops spinning.
I think when it finally does
it will be the end of me.
Die Schönheit der Vögel (und der prächtigen Aquarellzeichnungen) kontrastiert mit ihren teils pechschwarzen Gedanken. Diese sind so pointiert formuliert, rhythmisiert und gesetzt, dass sie als Poesie für sich stehen.
Die deutsch-amerikanische Autorin Johanna Thompson hat sich, wie sie im Vorwort schreibt, von Jim Goldberg inspirieren lassen. Dabei erweitert sie seine Methode der Bild-Text-Komposition auf spielerische, buchstäblich fabelhafte Weise. So illustre Namen wie Marcel Duchamp, Philip K. Dick und Run The Jewels sind weitere wichtige Bezugspunkte für Thompsons Arbeiten als Performance- und Medien-Künstlerin, Designerin und Musikerin. So mag ihre multidisziplinäre Perspektive einen Hinweis darauf geben, weshalb ein vermeintlich schmaler Band wie Birds so leicht und doch gedankenreich wirkt und stets zu neuem Blättern, Wundern und Entdecken einlädt. Ob heute, in Zeiten hochfrequenter medialer Selbstinszenierung, so ungeschminkte Einblicke in die Befindlichkeiten der Menschen an den rosigen und rostigen Rändern der Gesellschaft noch auf dokumentarischem Wege wie bei Rich and Poor möglich sind, mag dahinstehen – jedenfalls solange Thompsons Vogelwelt uns so unverblümt aus der Seele spricht.
Birds kann online über die Seite der Autorin versandkostenfrei bezogen werden.
Bestellungen sind zudem über den Verlag EECLECTIC (auch als E-Book) möglich. Auch in der freien Wildbahn, z.B. in der Buchhandlung Ocelot in Berlin-Mitte, wurden schon einzelne Exemplare gesichtet.