Eine aktuelle Ausstellung in Köln und ein Bildband geben faszinierende neue Einblicke in das Werk des Fotokünstlers Chargesheimer – und die Ankunft des Jazz in Westdeutschland in den 1950er und 1960er Jahren.
Eine der interessantesten Stilwandlungen deutscher – speziell jedoch auch Kölner – Fotografiegeschichte lässt sich nachempfinden in dem neuen Bildband Chargesheimer fotografiert Jazz (Emons, 2022), der darüber hinaus als Ergänzung zu einer am 22.05.2022 gestarteten Ausstellung im Rheinischen Bildarchiv dient. In seiner zwangsläufigen Fokussierung auf das Negativ als Werkzeug lässt er nicht allein einen umfassenden Blick auf die einstige Jazzmetropole Köln zu, sondern fernerhin auf die wohlbehütete Methode Chargesheimer. Denn der strenge Sortierer und Tendenzeremit verarbeitete nur einen Bruchteil all seiner Jazzaufnahmen aus über zwei Jahrzehnten in der Dunkelkammer weiter. Eine autorisierte Buchpublikation materialisierte sich bis zu seinem frühen Tod um den Jahreswechsel 1971/72 nie, der Negativschatz blieb Nachgeborenen zur Auswahl, Analyse und Präsentation überantwortet.
Der vergleichsweise geringe Textanteil – ein paar Worte zum Sammlungsbestand, den damaligen Hochburgen und Charakteren der Szene sowie knappe Biografien von Musikschaffenden – akzentuiert dies, lässt die Technik weitestgehend für sich stehen, spricht kein letztes Wort aus über die endgültige Form, kommentiert lediglich entlang einer Stationenreise durch die Jahre. Sie beginnt, wie sollte es anders sein, mit Porträts; jenem Arm der kommerziellen Fotografie also, der Chargesheimer 1957, nach Jahren der Existenz zwischen Auftragsarbeit und abstraktem Experiment, mit einer außergewöhnlich grimmen Aufnahme Konrad Adenauers schlagartig zu einem der exponiertesten Fotokünstler der Bundesrepublik machte.
Gesichter, bestrahlt, vom Licht geküsst in tiefster fotografischer Nacht – sie waren das Markenzeichen eines geistvollen Handwerkers, der seine Werke unter penibler Arbeit am einzelnen Positiv spezifische Ausdeutungen annehmen ließ und den gesellschaftlichen Orbit, in dem alle Gesichter immerzu kreisen, via Nachbelichtung zur dunklen Explosion verdichtete, während er die Züge bis an die völlige Preisgabe all ihrer Geheimnisse manipulierte. Chargesheimer hat Menschen fotografiert wie Ansel Adams Felsmassive – mit offenkundigem Respekt vor den Launen der Natur, aber auch nie darum verlegen, sie seinen Impressionen zu beugen. In einem Sinne suchte er ebenso Landschaften – und wo er keine fand, da verortete er sie im Leben, das sich im Laufe der Existenz unweigerlich ins menschliche Antlitz einfrisst.
Erstmals im größeren Stil zugänglich wird hier allerdings im kaum verwerteten oder kuratorisch erkundeten Terrain die tatsächliche Landschaft um seine gewichtigen Monumente. Es offenbart sich im Negativ ein hervorragendes Gespür für Raum und Zeit der Jazzszene Kölns; simultan gibt ihr unautorisierter Abdruck dennoch auch den Augen preis, wie viel von der späteren Radikalausbelichtung bereits in ihnen angelegt ist. Chargesheimer intim — eine der seltenen Gelegenheiten, den notorischen Geheimniskrämer der deutschen Fotografie mit posthum heruntergelassenen Hosen zu erleben.
Raumstimmungen finden sich in den 1950er Jahren des Buches selbst in 6×6 und ohne Zuhilfenahme kürzerer Brennweiten plastisch eingefangen – Becken, Trompeten, Mikrofone, Backsteinwände, sie alle ragen in Aufnahmen hinein oder aus ihnen hinaus, um den Schall abzuleiten, sind auf Papier so gegenwärtig, als hocke man selbst mit im Keller.
Detailversessen wird der Kontrabass ausgelesen, gefriert das Spiel bei jede Bewegung anhaltenden Verschlusszeiten zu seinem eigenen Stillleben, einem Monument geschnitzt aus Holz. Nicht selten hätten Gruppenaufnahmen verfremdete Porträtvergrößerungen nahezu aller Abgebildeten zugelassen. Umfassende Tiefenschärfe, rasche Verschlusszeiten – der reine Akt des Fotografierens ist bei Chargesheimer naturalistisch, denn nur so ließ sich im Nachgang beliebig hervorrücken, was dem neutralen Kameraauge entgeht. Schwarze Umgebung bei Bauten wie Gesichtern, Fotografie unter künstlichem Licht ist selten freundlich zum Fotografierenden. Gerade vor dem Hintergrund jüngerer Debatten imponiert, wie mühelos Chargesheimer – geboren 1924 unter dem bürgerlichem Namen Carl-Heinz Hargesheimer, sozialisiert in einem Land, welches das Fremde bestenfalls kaum kannte, schlimmstenfalls aus der Gesellschaft separierte – gelingt, Nuancen und Hauttöne der vorrangig porträtierten People of Color abzubilden.
Die Bühnenbeleuchtung, einzelne klug eingefangene Lichtkegel im Hintergrund der Konzertbühne heben Ella Fitzgeralds Hautfarbe hervor, lassen sie Kontur, Differenzierung und eine autarke Würde gewinnen, die in der Abbildung selten selbstverständlich war. Welche Partien wie vom Licht berührt werden, diese flüchtige Wissenschaft des Augenblickes erhebt Chargesheimer zu einer Kunstform. Weniger sind es dabei die Augen, denen seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt, mehr interessiert sich sein Blick für die Wangen des Menschen, unbestechliche Zeugen eines fordernden Lebensweges. Sidney Bechets Tränensäcke übertrumpfen das in ihnen Eingelassene, gegerbte Haut gerät zur Landkarte des Überlebens, die schiere Schärfe von Backen, Mündern und angegliederten Mundstücken verleiht der Musik ein fast durch die Seiten spürbares Pulsieren, das weit über die Lebensspanne des verewigten Menschen hinaus bleibt. Respektvoll und ganz nah dran an vermeintlichen optischen Makeln, naturalistisch und expressionistisch zugespitzt, Augenblick und Montagepuzzlelei – aus diesen nur scheinbaren Widersprüchen zwischen Realismus und Ausschmückung beziehen viele der gezeigten Aufnahmen einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Reizes. Insbesondere bei den wenigen fertiggestellten Fotografien Chargesheimers – das Gros fand Veröffentlichung in der heute unbezahlbaren Fotomappe “Armstrong-Fitzgerald” (Dumont, 1961) – zeigt sich, wie nuancenreich der Mensch an sich, selbst zur Silhouette nachbearbeitet, noch schimmert. Die Tonalitäten des Wesentlichen.
Bei aller Zugewandtheit zu den Menschen und ihren Räumlichkeiten bleibt indes noch etwas anderes augenscheinlich – ein eingehendes Ausblenden von reiner, dokumentarischer Örtlichkeit. Dreiecke von Decke, Wand und Übergang hinter den Köpfen von unten angeschnitten Musizierender, die Beschaffenheit der Dinge. Mehr als vages Gespür denn als Gewissheit des Anwesenden überschreitet Chargesheimers Raumwiedergabe die Dokumentation hin zum Evozieren einer bestimmten, auch soziologischen Umgebung. In der Tradition seiner Publikationen ist Chargesheimer fotografiert Jazz somit vielleicht gar über fremden Eingriff hinweg ein Band geworden nicht bloß mit Bildern aus dem Kölner Jazzmilieu, sondern über es. Still und heimlich schleichen sich spätestens mit den Aufnahmen ab 1961 Vorboten der weitestgehenden Abkehr vom Menschenporträt ein, die Chargesheimer letzte Jahre prägen sollte. Mit der Anschaffung einer dedizierten Ultraweitwinkelkamera vom Typ Brooks-Plaubel Veriwide 100 (die Zahl benennt den im rektilinearen Mittelformat kaum je wieder erreichten Bildwinkel), die der Fotograf um 1960 herum getätigt haben muss, wandelt sich seine Arbeit endgültig zur Flächenkunst.
“Hannover”, Chargesheimers vorletztes Buchprojekt aus dem Jahre 1970, zeigt auf einer Doppelseite die unter weitestgehend identischen Bedingungen geschaffenen Porträts zweier Teenager. Ein Mädchen, ein Junge, sie beide eint die strenge Trübnis, die aus ihren Posen, auch aber den winzigen Reihenhausvorgärten in ihren Nacken spricht, die seine dann längst zur Standardkamera gewordene Neuanschaffung mit ihrem extremen Blickwinkel, der unvertrauten Perspektive und der schon bei Offenblende quasi unendlichen Tiefenschärfe gnadenlos hervorhebt. Die von städtischen Betonwüsten befeuerte Bitternis des Spätwerkes mag hier noch zugunsten eines direkt auf die Zuschauenden überführten Dabeiseins bei im Grunde doch hermetisch von der Außenwelt entkoppelten Plattenaufnahmen fehlen, was diese besondere Kamera für Chargesheimer vollendete, ist jedoch zehn Jahre vorher bereits ersichtlich: Er benutzt sie als Makroobjektiv für den Menschen in seiner karg-bundesrepublikanischen Blüte – der Jazz brachte Leben aus Übersee, doch eine anhaltende Ausflucht aus der Wirklichkeit bot auch er nicht. Davon kündet diese Rückschau ganz beiläufig.