Was heißt Überleben? Auf dem Cover von Matana Roberts‘ neuem Album blickt ihre Großmutter stolz in die Kamera, eine Polizei-Identifikationsnummer in der Hand. Es ist ein Mugshot, ein Verbrecherfoto, aus den 40er-Jahren. Das neue Album „Coin Coin Chapter Four: Memphis“ verbindet, in einer ekstatischen Collage aus harten, klaren Kontrasten, musikalische Traditionen mit einer überlieferten Geschichte, die in Form von Briefrezitativen und Song-Lyrics wie ein nicht versöhnter Geist durch die Musik spukt.
An einem Abend, Ende 2012, spielte die amerikanische Altsaxofonistin Matana Roberts in einem Berliner Club am Kottbusser Tor, einer ehemaligen Zahnarztpraxis, die mit weißen Kacheln und flimmerndem Röhrenlicht eher wie ein Schlachthaus im dritten Stock eines verlassenen Mehrfamilienhauses aussah. Mehr Hostel-Kulisse als Veranstaltungsort: So altmodisch edgy lief das vor ein paar Jahren noch.
Ich weiß nicht mehr, wie ich von dem Konzert erfuhr, ihr Programm stellt die Location bis heute nicht online, an die Musik an diesem Abend erinnere ich mich aber noch genau: Roberts‘ Saxofon-Sound, der in kurzen Phrasen schneidig und harsch sein konnte und eine tiefschürfend klagende Qualität gewann, wenn die Töne länger gehalten und gebunden wurden. Die DIY-Bildprojektion, ein Lichterstrom aus Fotos und kurzen Videokameraaufnahmen, wie Erinnerungen, die kurz und unzuverlässig vor dem Auge aufflammten und nur noch durch den Klang der Musik weiter im Raum blieben. Evozieren, bannen, festhalten, weitertragen: Während des Konzerts entstand ein teils euphorisierendes, teils schmerzhaftes Bewusstsein für etwas, das aus der Vergangenheit aufgestiegen war und gemeinsam belebt werden sollte. Gemeinsam, das hieß auch: Matana Roberts summte und sang Melodien und Songfragmente, die durch das Publikum aufgegriffen und weiter variiert wurden, Calls and Responses, bis der ganze Konzertsaal vom mehrstimmigen, ekstatischen Sound erfüllt war.
Die an jenem Abend beschworene Vergangenheit war nicht nur die einer musikalischen Tradition, sie ist auch die gelebte Vergangenheit von Matana Roberts‘ Familie, zusammengesetzt und montiert aus Überlieferungen, Überbleibseln, Gesprächen, historischer Forschung: Seit 2006 arbeitet die Künstlerin an einem in Albumform veröffentlichten Zyklus namens Coin Coin. Benannt ist er nach dem Spitznamen von Marie Thérèse Metoyer, einer befreiten Sklavin aus dem 18. Jahrhundert, die in Louisiana die erste Community für Creoles of color gründete. Musikalisch wie narrativ führt die Ahnenforschung dabei geradewegs in die Tiefen der Südstaaten, deep south, wo das Erbe der Sklaverei bis in die heutige Gegenwart widerhallt als Echo von Menschenauktionen, rassistischen Ausschreitungen und solidarisch entwickelten Überlebensstrategien. Die Besetzungen der Aufnahmen reichen von einem 15-köpfigen Ensemble aus Montréal zu einer kleineren, um einen Kontertenor-Sänger ergänzten Combo von New Yorker Musiker*innen.
In Coin Coin Chapter Three: River Run Thee (2015) verband Roberts ihr Saxofonspiel in einer intimen Cut-up-Collage mit mantrahaft wiederholten Tagebuchaufzeichnungen und Geräuschen, die sie entlang einer Reise durch den Süden aufzeichnete. Der nun erscheinende Teil Coin Coin Chapter Four: Memphis überträgt das Arrangement von harten, klaren Kontrasten (Matana Roberts verweist in Interviews auf den Einfluss des Sound-Mash-ups im frühen Hip-Hop) auf ein Quintett. Vom Cover des Albums, ein Mugshot aus den 40er-Jahren, blickt Roberts‘ Großmutter stolz in die Kamera, die Gefängnis-Identifikationsnummer in den Händen. Sie war es, die jene Geschichte weitertrug, die in Form von Briefrezitativen und Song-Lyrics durch das Album wie ein nicht versöhnter Geist spukt: Ein junges Mädchen versteckte sich monatelang allein im Wald, als ihre Eltern durch Mitglieder des Ku-Klux-Klans aufgegriffen wurden. Jahre später erfuhr sie, dass beide Eltern tot waren, dass ihr Vater ermordet und die Mutter in einer psychiatrischen Anstalt gestorben war.
Der Klang des Albums ist aggressiv, getrieben von plötzlichen Kontrasten: W.C. Handys St. Louis Blues, ein populärer Standard aus dem frühen 20. Jahrhundert, verliert nach einigen Takten seine Ragtime-Synkopierungen. Gesang zerfällt in Schreie, kehlig herausgepresste Silben. Trotz Konzept bleibt das Zusammenspiel der Musiker*innen jedoch frei für Improvisationen: Die Grundlage bildet eine grafisch notierte Partitur, die Matana Roberts aus Notenfragmenten, Fotografien, Zeitungsausschnitten und Zeichnungen collagierte.
Ein Collagenprinzip dominiert auch das Arrangement der im „wordspeak“ vorgetragenen oder gesungenen Texte von Coin Coin Chapter Four: Memphis: Religiös tradierte Bilder von Menschen, die in Schuhen auf einer Straße aus Gold ins Jenseits gehen, blenden über in das vom Feuer rot erstrahlende Gesicht der Mutter bei einer Ausschreitung des Ku-Klux-Klans. Noch mehr als auf vorhergehenden Veröffentlichungen bilden tradierte Songs die Ankerpunkte in der Narration wie dem Zusammenspiel der Musiker*innen. Im verschleppten Schunkelrhythmus von Her Mighty Waters Run klingt das alte Seefahrer-Shanty Roll The Old Chariot als melodiöses Fundament an. Gesungen im emphatisch mehrstimmigen Klageton bekommt es die Färbung eines Spirituals, in dem das Vorwärtsziehen eines Schiffs existenzielle Lebensbehauptung bedeutet. Überlieferung, Tradierung: Lieder, die aus der Vergangenheit überlebt haben, sind für Matana Roberts auch immer Lieder über das Überleben selbst.
„Alle Traditionen sind wandelbar und können miteinander verbunden werden“, sagte mir die Künstlerin 2013 in einem Interview, „selbst in ihren vermeintlichen Dissonanzen. Ich glaube nicht an den trennenden Aspekt von Tradition.“ Dieses Verständnis teilt auch das in Montréal ansässige Label Constellation Records, das die bisherigen Alben des Coin Coin-Zyklus veröffentlicht hat. In der zweiten Hälfte der 90er-Jahre bekannt geworden durch die weitschweifigen Post-Rock-Exerzitien der Band Godspeed You Black Emperor (auf deren Releases auch Matana Roberts einen eindrücklichen Credit hinterließ), gründete das Veröffentlichungsethos des Labels ursprünglich in einer lokalen Szene, die sich zu gleichmäßigen Teilen um Künstler*innen jüdischer Abstammung beziehungsweise mit Wurzeln im arabischen Raum formierte.
Eines der Strukturelemente von Coin Coin Chapter Four: Memphis ist eine Art sich kurz wiederholende und immer wieder in den Hintergrund rückende Beschwörungsformel: ein wortloses Summen, das Matana Roberts zusammen mit Musiker*innen von Thee Silver Mt. Zion und Black Ox Orkestar intoniert, Bands, die sich unter anderem mit jiddischer Folklore und der zeitgenössischen Erfahrung der jüdischen Diaspora auseinandersetzen. Auch das ist ein bislang wenig Erwähnung findender Teil von Roberts‘ Beschäftigung mit eigener und geteilter Herkunft: Der Name Matana ist das hebräische Wort für „Geschenk“, in den frühen 70er-Jahren konvertierten ihre Eltern zu sogenannten Black Hebrew Israelites.
In einem Jahrzehnt, in dem sich der politische Diskurs über Identität zunehmend verengte und kulturkämpferisch verhärtete, gewinnt ein ergebnisoffenes kulturhistorisches Werk wie der Coin Coin-Zyklus an selbstbewusster Persistenz, indem er auf einer Vorstellung von Kunst als fluidem Experimentierfeld beharrt. Gegenüber den institutionalisierten und kommerziellen Hauptströmungen zeitgenössischer Jazzmusik und deren Selbstdarstellung bzw. -vermarktung bleibt sein Status jedoch weiterhin in mehrfacher Weise prekär und marginalisiert. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum 50. Jubiläum des einflussreichen Jazzlabels ECM (auch das ist Selbstdarstellung: das Kürzel steht für „Edition of Contemporary Music“) recherchierte die Journalistin Franziska Buhre vor Kurzem, dass unter den rund 1600 Veröffentlichungen des Labels nur 3,19 % unter dem Namen einer Künstlerin veröffentlichen wurden. Auch 2019 beherrscht die Vorstellung vom „young man with a horn“ nach dem Erfolgsmodell von Wynton Marsalis weite Teile des Betriebs und steuert Hypes, die über die Grenzen des Genres hinausgreifen. Dass Coin Coin hingegen von einem unabhängigen Label gestützt wird, geht einher mit ungewisser finanzieller Sicherheit für ein ambitioniertes Langzeitprojekt, das in einem Zeitraum von bald 15 Jahren bisher nur zu einem Drittel realisiert werden konnte. Es bleibt bis auf Weiteres gebunden an temporäre Stipendien und Residencies, nomadisches Leben mithin, und wird durch lange Pausen unterbrochen. Was hieß Überleben für jene, die früher waren, fragt die Musik von Matana Roberts. Weil sie großartige, unerschöpfliche Kunst ist, beantwortet sie auch das: Was heißt Überleben heute?