Stolpernde Sätze im blutigen Herzen: „Hallo, hört mich jemand?“ von Sibel Schick

Buch "Hallo, hört mich jemand" von Sibel Schick

Im Herbst 2020 bündelte die durch teils hochkontroverse Onlinekolumnen bekannt gewordene Autorin Sibel Schick den Großteil ihrer zugespitzten Glossen, aber auch methodischeren oder intimeren Texte zu einem Sammelband. Auch mehr als ein Jahr später bleibt dieser so lesenswert, dass wir eine ausführliche Rezension nun nachliefern.

Hallo, hört mich jemand?, das erste, aus einer Reihe vorveröffentlichter Kolumnen und ein wenig neuem Material in Fließform gebrachte Buch, der durch Twitter bekannt gewordenen Journalistin Sibel Schick stellt unverkennbar eine rhetorische Frage. Denn spätestens seit ihrem im Sommer 2018 veröffentlichten Brachialgedicht “Männer sind Arschlöcher” sind Name wie Anliegen nicht allein politischen Freunden bestens geläufig. Eine Frage jedoch auch, die, wie sich im Laufe der gesammelten Lektüre ergibt, in vielerlei Hinsicht über die Autorin selbst hinausweist. Schicks Texte, viel wichtiger jedoch ihr charakteristischer Ton, ihre Schreibe, die sich wie die Nadel zum Luftballonmeer eines Kindergeburtstages verhält, lässt sich nicht von ihrer Biografie separieren. Damit allerdings gleichsam nicht von denen anderer Menschen, die nach Deutschland kamen, um Erwartungen zu finden, jedoch kein Gehör. Ich und die anderen, das geht zuverlässig zusammen in dieser Textsammlung, sie ist in maximaler Konsequenz solidarisch. Angesprochene Probleme bleiben stets für alle Lesenden greifbar, weil sie ureigene Empfindungen, Blickwinkel, auch Peinlichkeiten verweben, somit anknüpfbar bleiben. Von der aus freimütiger Lust aufgegabelten Tinder-Bekanntschaft zur Stereotypisierung kurdischer Frauen, aus dem Intimen ins Umfassende und zurück. Das Gros der Erlebnisse ist bodenverhaftet mit dem, was in Deutschland jenen bleibt, die in Richtungsfragen und akademischen Diskursen außen vor sind: banalstem, immer wieder bitter enttäuschendem Alltag.

Sibel Schick (© https://sibelschick.net/)


Ein Wechselspiel, manchmal heiter, manchmal tragikomisch – Sibel Schick schreibt chirurgisch, sie reißt einem das Herz auf, um sogleich den Tupfer anzusetzen, macht Angst, dass sie dir an den Kragen will, und möchte doch nur Augen öffnen. Ein wenig sind ihre Texte in ihrer diebischen Erregungsoffenheit die verschriftlichte Variante eines Rorschach-Tests – selten so böse und schlimm, wie einen die Präsentation glauben lassen mag. Die gerissene Strukturierung des vornehmlich Bekannten verstärkt nun erstmals die Wahrnehmung des Sanften in der Wut. Rückabgewickelt bewegt sich das erste der Großkapitel, es ist dem Themenblock Rassismus gewidmet, ohne Rücksicht auf die ursprüngliche Veröffentlichungschronologie vom wissenschaftlichstem Auswahltext zu einem milde resigniert festgehaltenen Endpunkt der Vergangenheit. “Wir sind nun an einem Punkt angelangt…”, öffnet die erste echte Kolumne der Emotion direkt Betroffener den Pfad. Den Zorn ordnet sie somit nachträglich ein in eine neue Abfolge der Geschehnisse. Die Texte sind wie geschaffen für diese Form des Neuarrangements, der klimatischen Sortierung. Sibel Schick kontextualisiert sie durch die geschlossene Buchform weiter, ohne ihnen die Zähne zu ziehen. Nach diesem Buch mag der verschreckte Rückzug ins vorgeblich ausdifferenzierte Feuilleton nicht mehr so recht glücken, niemand schreibt dort so umfassend wie Schick – sie ist nun Feuilleton, räumt die Plätze frei.

Alles Geschriebene geht einen werksinternen Diskurs ein, verortet sich auf dem großen Wandbild gemachter, dann in Schrift umgesetzter Erfahrung, durchgemachter Entwicklung. Von der erbosten Präzision zeitgenössischer Glossen zu dem noch Blümchenhafteren früher Einwürfe; persönliche Entwicklung ist in dieser Ausstellung nicht bloß Sache sich wandelnden Stils, sondern fortwährend weiter erwachten Widerspruchsgeistes. Die Summe erlebter Ausgrenzungen – etwas, das Vorwürfe negativistischen Querulantentums seit jeher unterschlagen. Für Ungehörte kann dieses Buch das exakte Gegenteil sein, Aufmunterung, geschenkte Zuversicht. Irgendwann wird dich jemand hören, du musst an der Sprache festhalten. Hallo, hört mich jemand?, dieser Satz ist eben auch die Bilanz einer Ohnmacht – und von Zukunftsmut. Beherzt endet die Rückschau mit einem aus den Schichten der Collage gespülten “Bevor es zu spät ist”. So wird das Muster bleiben, zwischen Anfang und Ende nun zusammenhängender Essays eingelassen finden sich verschiedene Ausprägungen des jeweils übergeordneten Phänomens – von verhalten heiter bis todernst verzweifelt. In der augenscheinlich so klaren Programmatik des Titels steckt eben auch ein gerüttelt Maß Zärtlichkeit, immerfort das Sehnen neben dem Schrei, manches Mal einzig ein schüchternes Fragen.

Während ich das schreibe, schäme ich mich. Als würde diese Erinnerung für immer und ewig an mir kleben, wenn ich sie aufschreibe. Sichtbar wie eine Tätowierung auf meinem Gesicht für alle, die das hier lesen. Ich habe Angst, dass mein Ich nicht mehr durchkommt, wenn mich jemand ansieht und an diese Geschichte denkt. Als würde sie verschwinden, wenn ich sie lang genug verschweige, wenn ich sie einfach für mich behalte.

Sibel Schick: „Die Narbe“

Es lässt sich nicht einfach abnabeln vom Schreihalsimage, mit dem Schick heute noch oft diskursiv an den memeverzierten Rand des Internets gedrängt wird – die Brüche und Kontinuitäten einer Schaffensübersicht bezeugen dies. Aus diesen schält sich über den geschaffenen Lesefluss allein bereits eine Vielgesichtigkeit hervor, die das Empörte des vollends Öffentlichen mit dem ungebrochen Enthusiastischen des Halbprivaten in Einklang bringt – an Trolle sowie jenes Bild, das von Twitter nachweht, ergeht somit eine implizite Kampfansage: Ihr könnt mir die Freuden nie völlig nehmen. Zu spotten gibt es da im Lehnstuhl nichts, Schick belegt ausführlich jene filigrane Freiheit, die diesen heute so anrüchig gewordenen Meinungskolumnisten offensteht. Wer Sibel Schick für eine “verbitterte Femunze” hält, der liest sie gar nicht, versteht sie nicht, will nicht lesen, verstehen oder, ganz recht, hören. Die weit kolportierte Maßlosigkeit hängt sich an einer zwecks Aufmerksamkeitsgenerierung fabrizierten Onlinepersona auf und entspricht unter genauerem Blick bestimmten Reizworten allein auf den weiten Fluren seriös verfasster Texte. Reizworte mitnichten im Sinne schnöder Provokation, sondern schlicht des Stolperns, des bewussten Herausfallens aus einem spezifischen Sprach-, allerdings auch externen Bildungssatisfaktionssystems. Ihnen fällt hinweisende Funktion zu – sie justieren den Fokus minutiös neu, stören den Fluss, schärfen den Blick und fordern heraus. Der V-Mann vor Ort an einem der NSU-Tatorte “chillte”, das ist proper chilling für über das Wort stürzende Augen, Antanzen für Sibel Schick hingegen “Faschismus”. Störfrequenzen, Miniaturanklagen gegen die kalte Etikette, die diktiert, dass man so und nicht anders über bestimmte Dinge zu schreiben habe, ewig abgeklärt auch im eigenen Schmerz, nie jedoch tongue-in-cheek.

Das Schlüsselwort einer Kolumne zum Thema Schminke lautet “fancy”, und ebenso zeigt sich der Aufbau des Kapitels zum Komplex Sexismus: erst ein transkribiertes Podcastmanifest über Männer und Pauschalisierungen, dann die Schminkabsage, obendrauf das Männergedicht, welches sowohl Schicks damalige Öffentlichkeitswirkung eskalierte wie auch zu anhaltenden Todesdrohungen gegen ihre Person führte. Eingebettet in Hintergründe entlarvt es sich noch einmal als das, was es immer schon gewesen ist: überspitzte Reaktion auf existente Missstände, gezielte Pauschalisierung gegen nicht zu Pauschalisierende einer Gesellschaftsordnung – die schärfste Waffe der grundsätzlich Pauschalisierten. Gespiegelt legt das im ersten Kapitel noch dramatisch zugespitzte Sortieren nun deeskalierenden Kontext frei und zeigt auf, wie sehr der Aufschrei aus einer vorgefertigten Haltung erwachsen konnte. Ein Knall, dessen es einst bedurfte und der nun umgeschliffen weiterwirken darf. Es imponiert, wie hervorragend Schicks Texte in ihrem frischen Umfeld weiterhin funktionieren; ein Umstand, der sie endgültig als die umsichtige Stilistin ausweist, die von Beginn an nichts dem Zufall überließ. Wie bei allen großen Stilisten umfasst dies freilich gleichfalls das verschmitzte Eingeständnis eigener Unzulänglichkeiten zur Gesprächserweiterung.

Speziell in den zum Intimeren drängenden Kapitel nach der Halbzeit gibt es ihrer reichlich, formell versprüht das Buch durch seine weitläufige Tell-it-all-Haltung mitunter den Esprit eines Coming-of-Age-Romanes. Dem alten, zutiefst persönlichen Jugendfeind ADHS, ihm ist ebenfalls eine Kolumne zugedacht, begegnet die Autorin mit einer Direktheit, an der jugendtagebuchhaftes Zittern klebt. Sibel Schick, gefürchtetes Netzphänomen par excellence, ist schreckhaft, schreckhaft lustig. Zustandsbeschreibungen sind von allzeit exakter Geständnistrockenheit: “Männer sind sowieso überall und sowieso übergriffig. Aber ohne BH im Frühling werden sie noch unerträglicher.” Unweigerlich malt man sich einen absurden Sketch aus den Federn der Monty Pythons oder Loriots aus, der tatsächlich witzig ist, weil die Verursachenden nicht überprivilegierte Akademieboys sind, die nur so halbherzig über sich selbst lachen können. Wer nach Sätzen wie diesen nicht ein leider sardonisches, nach erster Kehlenwindung in der Realität aufschlagendes Lachen ausstoßen muss, ist doch im Stillen längst eingesargt. Akustische Umkehrten, ein Kehrtmachen über die Betonung der Lesenden macht einen anderen Kern der humoristischen Glossen aus. “Es war ganz nett, bis es irgendwann nicht mehr nett war.”  Jeder Partymensch kennt diese Situation, dass sie sich von der geschilderten beträchtlich unterscheiden kann, spielt dabei keine Rolle. Erkenntnisgewinn erwächst dort, wo man dem Publikum selbst im Lachen vertraut. 

Dabei immer wichtig: Das Hinweisschild “Cis-Mann”, welches Schicks ernsthafte Ausführungen zu konkreten Verhaltensweisen ganz simpel von Schmerzensscherzen trennt. Wie auch im vielgescholtenen Gedicht bleibt es an dieser Stelle absent. Es lässt sich ja über gendergerechte Sprache denken, was einem so beliebt, aber den Vorteil präziser Trennschärfe im Spaße könnten angebliche Schneeflöckchen chronischen N-Wort-Connaisseurs somit klar voraushaben. Der gesamte BH-Text, der gern als ein einziges egozentrisches Gemoser abgetan wurde, ist köstlich, proppenvoll mit mikroskopischen Selbstkasteiungsspitzen des lockeren Tonfalles, die im Umkehrschluss Verhandeltes unangenehmer, als übersteigerte Reaktion auf wirklich ziemlich harmlose Transgressionen erscheinen lassen, das Beschwingte nachhaltig mit Rissen versetzen. In der öffentlichen Wahrnehmung weitestgehend ungewürdigte Lebensfreude steht in diesen Momenten im harschen Kontrast zu Entwicklungen, die – wie vereinzelte Fußnoten knapp informieren – teils längst von der Wirklichkeit überholt und verifiziert wurden. Der Schluss liegt nahe, dass die geäußerte Kritik gar nicht zu scharf, sondern noch nicht scharf genug ausfiel. Einmal schildert Schick, wie sich Freischaffende einen Schutz vor Shitstorms erst durch einen festen Zeitungsplatz im Nacken erarbeiten müssen, doch noch bevor man zu Ende liest, kommen die wenige Monate zurückliegenden Geschehnisse um den aus beinahe jedem arrivierten Pöstchen beschämenden Umgang mit „taz“-Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah ums Eck und reißen alles mit dem Hintern ein. Da wird das Buch losgelöst von seinen Zeilen ganz ernst, und es schmerzt, diese Texte gerade jetzt wiederzulesen.

Ein unbequemer, jedoch schöner BH ist wie ein Feind, der sich als dein Freund gibt. Du vertraust ihm, fühlst dich wohl bei ihm, er ist süß und schön, Gott ist er sexy. Aber er agiert ständig gegen dich, gönnt dir nichts, reibt Salz auf deine Wunden, tut dir bewusst weh, manipuliert dich. Dennoch kannst du nicht ohne ihn. Ich glaube, das kennen hauptsächlich Frauen, die cis Männer daten, weil uns beigebracht wird, dass Gewalt eigentlich Liebe sei.

Sibel Schick: „Das kleine Monster, das mich auffrisst“

Die letzten Kapitel schließlich vermählen alle Inkarnationen der Autorin Sibel Schick auf Vortrefflichste: Ein Umriss der Cybermännergrippe, jener hochspezifischen Dünnhäutigkeit, die wohletablierten Männern in den sozialen Netzwerken anzuhaften scheint, und einige sachliche Betrachtungen zu Zugang und Klasse lockern den Boden, dann fallen die Überleitungen vorwarnungsfrei vom Schmunzeln ins Schaudern. Über die mannigfachen Übergriffe, die ihre Karriere Sibel Schick vornehmlich einbrachten, nachdenkend, bekennt sie im privaten Endkapitel, eine ihrer Katzen weniger lieb zu haben als die andere, bevor im nächsten Augenblick der Erinnerung die erste Woge der haltlosen Aggression über sie schwappt. In ihrem freimütigen Verknoten des ganz Kleinen und ganz Großen sind die diese Gegenüberstellungen doch nie nur im Ansatz selbstmitleidig, die syntaktisch harsch anbeigestellten Vergeltungen zu kokett eingestandenen Minimalstverfehlungen dienen unmissverständlich der treffenden Illustration des Loses, das Schick mit vielen weiteren marginalisierten Stimmen oder Stummen eint – in einem gewissen Sinne auch der Poesie, die ihr Schreiben von trostloser Sozialdidaktik abhebt. “Manchmal gelingt mir die Provokation nicht, ich bleibe dann aber dran.” − ein zentraler Satz, der den mittels nichts als Lautstärke zu gewinnenden Kampf um Gehör des Buchtitels und seine unvermeidlichen Beiprodukte auf den Punkt bringt wie kein zweiter. Sibel Schick ist nicht das heilige Unschuldslamm, als welches sie wieder und wieder geframt werden soll, um gedachtes wie mitunter real existentes Fehlverhalten ins umgehend ganzheitlich Diskreditierende zu verzerren. Diesen Anspruch hat sie nie erhoben. Die Sibel Schick, die zwischen ihren Zeilen herauslugt, ist gleichwohl keine unerbittliche Spielverderberin. Sie ist schlicht ein ziemlich lustiger Mensch, der gerne heiterer wäre, sofern die Lage weniger ernst wäre. Für nicht direkt Betroffene ist ihre archivierte Weltsicht dementsprechend nebenbei eine ideale Verständnisgrundlage, das Bindeglied zwischen den gewissermaßen isolierten Twitter-Diskursen und der breiteren Öffentlichkeit.

Zurück zum Geständnischarakter des jugendlichen Tagebuchs: “Hallo, hört mich jemand?” ist, wie einen Fremden im intimen Schmierheft blättern zu lassen, und dann steht da unentwegt drin: Liebes Tagebuch, ich habe Mist gebaut. Das ist eine der höchsten Formen des schriftlichen Teilhabenlassens, Sibel Schick meistert sie mit Bravour. Überraschende stilistische Vielfältigkeit lässt ungestüme Stream-of-Consciousness-Hirnanschläge fokussierte Nachbetrachtungen zum eigenen medizinischen Zustand batteln, die realiter freilich im gleichen Fingerschwung auf Papier entstanden sind und doch gerade als künstlerische Konzentration so vieles über ADHS preiszugeben vermögen. Umschreibt Schick Impressionen, gerät ihr Satzbau zur sich hektisch überschlagenden Eidetik: die Überdominanz der Eindrücke in Heimwehreflektionen, Sätze, die aus den Körperformen ihrer Inhaltsobjekte allein zu bestehen scheinen. Letzten Endes sind die tief persönlichen Anekdoten mit die lehrreichsten Geschichten. Weil sie eigene Versäumnisse nicht aussparen oder relativieren, vielmehr selbstbewusst in den Fokus stellen. Getreu dem Motto von Spoerls “Memoiren eines mittelmäßigen Schülers” verheißen sie: Auch ich bin nur ein schwacher Mensch und verdiene dennoch Grundrespekt. Das ist Sibel Schicks bescheidener Humanismus, die treffendste Anklage von allen – und sie steht am Schluss, damit man inmitten aller Grabenkämpfe der Politik um das Individuum nicht vergisst. Sibel Schick ist Aktivistin, sagt das Netz; das ist in gönnerhafter Verbrüderung zugeflüstertes Schimpfwort für alle jene, denen es nicht mehr umreißt als das Eiern um die eigenen Bedürfnisse. Na gut denn, erweitern wir die Kampfzone: Sibel Schick ist Autorin von derzeit selten erreichtem Rang in Deutschland. In diesem Band hier steht es nun ein für alle Mal in guter Tradition des alleinig gedruckt Wertvollen in Tinte auf Papier.

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