Junji Itos göttliches Horrorbuffet

Im Juli erhielt Junji Ito einen Will Eisner-Preis, sein Horrorspiralen-Buch Uzumaki gibt der Carlsen-Verlag jetzt in deutscher Sprache als Hardcover neu heraus. Itos Gruselbücher protzen mit Schönheit und sind voller Philosophie. Wir klären auf, für wen sich dieser Trip lohnt.

Junji Itos episodische Erzählung Tomie markierte in den frühen 80er Jahren den Beginn einer faszinierenden Künstlerkarriere. Die namengebende Teenagerin hat ein Verhältnis mit ihrem Lehrer. Das wird für ihn zum Problem, denn Tomie übt mächtig Druck: „Ich kann nicht ewig schweigen“, warnt sie. „Die Schule könnte was erfahren.“ Sie endet in kleine Stücke zerschnitten und an verschiedenen Orten versteckt.

Doch bald darauf kehrt die Ermordete verändert zurück: Als eine Schönheit, der alle Männer verfallen. Wer Tomie begegnet, wird ihr willenloser Knecht, bis er dem Wahnsinn erliegt und sie schließlich ermorden muss, weil ein dunkles Bedürfnis ihn dazu treibt. Aber das in Stücke geschnittene Mädchen wächst nach, verbreitet sich wie ein Pilz.

Mich hat das stark an den Philomele-Mythos aus Ovids Metamorphosen erinnert. Als Philomele ihre mit dem Tyrannen Tereus vermählte Schwester Prokne besuchen will, vergewaltigt er sie an Bord seines Schiffes brutal. Philomele schwört, dass die Welt von seinem Verbrechen erfahren wird. Doch Tereus schneidet ihr ihre Zunge heraus und sperrt sie in einen Turm. Mit Hilfe eines Dienstmädchens und einer mit rotem Faden in ein Stück Tuch gestochenen Nachricht, gelingt es Philomele, ihre Schwester von dem Vorfall zu unterrichten. Prokne verhilft ihr unverzüglich zur Flucht.

Die Wahrheit drängt gewaltsam in eine Welt, die sie erfolglos zu unterdrücken versucht

Unbemerkt von den Wachen des grausamen Königs bereiten die Schwestern ihre schreckliche Rache vor. Sie töten Proknes eigenen Sohn, den Thronfolger des Tyranns, und servieren ihn dem Vater zur Speis‘. Als Tereus die Bluttat bemerkt, ist es bereits zu spät. Wahnsinnig werdend jagt er die beiden Frauen durchs Schloss. Dabei verwandeln sich alle drei in zwitschernde Vögel und fliegen hinaus in die Welt.

Mich hat Junji Itos Tomie an Ovids Mythos der Philomele erinnert.
Philomela, geleitet von Prokne, weist Tereus das Haupt des Itys. Ölgemälde von Peter Paul Rubens, 1636-1638.

Genau an diesem Punkt setzt Tomie an: Nach der Eröffnungssequenz erzählt der Band in Dauerschleife, wie sich Tomie Luft verschafft, Episode um Episode, Opfer um Opfer, Tod um Tod. Die Wahrheit drängt in diesen Iterationen gewaltsam in eine Welt, die sie erfolglos zu unterdrücken versucht, und bleibt doch auf eine Chiffre beschränkt.

Mit dem Verbrechen an Tomie ist es wie mit vielen Verbrechen in der Menschheitsgeschichte: Sie werden verschwiegen, vergessen, und trotzdem wirken sie als unverstandenes Trauma noch über Generationen hinweg in der Welt.

Mächte, die den menschlichen Verstand übersteigen

Patriarchale Gewalt, Sexismus und die Objektivierung der Frau: Das sind Motive, die sich auch an anderen Stellen in Itos Werk wiederfinden. Das fällt positiv auf, weil japanische Mangas sexuelle Belästigung und Missbrauch häufig unverhohlen zelebrieren, ohne dass es deswegen in Japan große Proteste gibt. Das Wegsehen der Anderen, die Gleichgültigkeit gegeneinander, Ohnmacht und Abhängigkeit, überstiegener Egozentrismus bis hin zur Unmenschlichkeit; all das findet man bei Ito oft. 

Auch Uzumaki (japanisch für Vortex), das im Carlsen-Verlag seit dieser Woche als neues Hardcover in deutscher Sprache verfügbar ist, behandelt metaphysische Fragen. Der Horror zieht in eine kleine japanische Küstenstadt ein. Spiralen sind auf einmal überall. Sie steigen als Rauch aus Krematorien auf, der nicht abziehen will, und treiben die Bevölkerung in den Wahnsinn. Die ist dazu verdammt, ihr Schicksal passiv über sich kommen zu lassen. Die Stadt wird im Wortsinn von einem Strudel erfasst, der die Realität wie einen klebrigen Teig in neue Formen verrührt. Von der Außenwelt abgeschnitten zerrüttet die Einwohner*innen und den Ort eine unerklärliche Urgewalt aus einer anderen Dimension (hallo, Lovecraft). 

Szene aus Uzumaki (1998-1999): Wie Kafkas Maulwurf handelt auch Uzumaki von der Unentrinnbarkeit, wie bei Lovecraft sind bei Ito Mächte am Werk, die den menschlichen Verstand übersteigen. © 1998 by Junji ITOSHOGAKUKAN

Das liest sich so herrlich wie es sich anhört, und macht die Wiederholungen wett, während Tomie gelegentlich doch unter ihnen leidet. Tomie (1987-2000) und Uzumaki (1998-1999) erschienen zuerst in sogenannten Shōjo-Zeitschriften wie Monthly Halloween und wurden mit jeder Ausgabe fortgesetzt. Darum ist jede Episode in beiden Büchern eine kleine, abgeschlossene Geschichte. Solche Vorgaben durch den Verleger schränken Geschichten in ihren narrativen Möglichkeiten natürlich ein.

Gott ist böse, humorvoll und schrecklich klug

Eine Schwäche, mit der der Künstler aber souverän umzugehen gelernt hat, wie sich an Uzumaki wohl zeigt. Die Spirale dreht sich Windung um Windung immerfort um den eigenen Mittelpunkt, bis sie ihn schließlich erreicht. Eine Referenz auf das eigene Werk? Auf jeden Fall eine aufs Leben und die Existenz. Nichts währt ewig, aber was soll’s, scheint Ito sagen zu wollen, Let’s have some fun.

Das viele Wiederholen hat Junji Ito zu einem einzigartigen Kurzgeschichtenerzähler gemacht. Da ist der von der Spiralform besessene Vater in Uzumaki, der sich immer sonderbarer verhält, bis er schließlich selbst zur Spirale wird, da sind diese seltsamen Löcher im Berg Amigara, die jedes exakt der Silhoutte eines individuellen Menschen entsprechen; da ist das Mädchen, das für alles eine Anleitung braucht, und sie von einer flüsternden Frau auch bekommt.

In seinen vielen kurzen Geschichten breitet Itos Werk einen Ideen- und Formenreichtum vor uns aus, der seinesgleichen sucht. Seine Bilder, oft fein und komplex schraffiert, sprechen für sich selbst. Sie rücken das Alltägliche in ein schwarz-weißes Zwielicht, in dem es neue und überraschende Formen annimmt, die man so kein zweites Mal sieht. 

Schnell fühlt man zwischen den Erzählungen einen vagen Zusammenhang; sie spielen in der gleichen Welt. Der Gott dieser Welt lässt ihre Bewohner*innen lustvoll mit den grauenhaftesten Schicksalen tanzen. Wer in diesen Tanz einstimmt, wird sich mit Junji Ito garantiert göttlich vergnügen.

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Uzumaki Deluxe
In deutscher Sprache stand bisher nur das vom Carlsen-Verlag äußerst schön gestaltete Taschenbuchformat von Uzumaki zur Verfügung – ab 28. August 2019 ist Uzumaki bei Carlsen außerdem als Hardcover-Neuauflage erhältlich. Wer danach mehr lesen will, muss auf englischsprachige Ausgaben zurückgreifen: Sowohl Tomie (VIZ Media) als auch verschiedene Kurzgeschichtensammlungen (Vertical Comics) gibt es in englischer Sprache im Handel oder im Netz. Leider liegen aber auch im Englischen viele seiner Werke noch nicht vor.

Die Bilder in diesem Artikel wurden uns von CARLSEN freundlicherweise zur Verfügung gestellt. © 1998 by Junji ITOSHOGAKUKAN

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