Ken Burns erzählt die Geschichte der „Country Music“ als amerikanisches Gesellschaftsporträt – und zeigt nebenbei, dass die tradierten Vorstellungen von „weißer“ und „schwarzer“ Musik schon immer eine Illusion waren. Vor allem weckt die Dokumentation aber Lust, dieses so reichhaltige Genre neu zu entdecken.
Banjo und Fiddle. Die Geschichte der Country-Musik beginnt mit diesen beiden Instrumenten, so erzählt es Ken Burns in seiner achtteiligen Dokumentation Country Music, die im September 2019 bei dem amerikanischen Sender PBS Premiere feierte. Die Fiddle kam in Gestalt der Violine durch europäische Einwanderer in die Vereinigten Staaten. Den perkussiven Klang des Banjos brachten westafrikanische Sklaven auf die Plantagen der Südstaaten. Und so räumt Burns schon zu Beginn seiner kulturhistorischen Erkundungen mit der Vorstellung auf, dass Country eine genuin „weiße“ Musik sei, auch wenn sie gern als „white man’s blues“ bezeichnet wird.
I played the brand new record on the jukebox
„Someone Told My Story“, Merle Haggard
And I scarcely could believe the song I’ve heard
It told of how you left me for another
It was almost like I’d written every word
Nach epochalen Filmreihen unter anderem über den amerikanischen Bürgerkrieg (The Civil War, 1990), die Geschichte des Jazz (Jazz, 2001) und den Vietnamkrieg (The Vietnam War, 2017) hat der vielfach ausgezeichnete Dokumentarfilmer Burns, zusammen mit Autor Dayton Duncan und Produzentin Julie Dunfey, mit Country Music eine weitere Fleißarbeit vorgelegt. Wer mit dem Genre nicht allzu vertraut ist oder mit seinem Sound fremdelt, mag sich fragen, ob es wirklich rund 16 Stunden Laufzeit benötigt, um dem Thema gerecht zu werden.
In Kürze beantwortet: ja, unbedingt! Burns holt zeitlich weit aus, beginnt im 19. Jahrhundert und schildert dann in zeitlichen Etappen die Evolution der Musik anhand prägender Biografien, der technologischen und kommerziellen Entwicklung von Radio und Plattenindustrie und des gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Hintergrunds. Hillbilly, Bluegrass, Honkytonk und Western Swing als Fundament, der Übergang zum Rockabilly in den Fünzigern, der Nashville und Bakersfield Sound und die Wurzeln des Country-Rock in den Sechzigern, Americana, Countrypolitan und Outlaw Country in den Siebzigern, Country-Pop und New Traditionalists in den Achtzigern: Das sind nur die markantesten Ausprägungen dessen, was stilistisch unter den weiten Begriff „Country“ fällt. Great Depression, Rassentrennung, Industrialisierung und Urbanisierung, die Bürgerrechtsbewegung, der Vietnamkrieg, das alles waren wesentliche Faktoren, die auf die Künstlerinnen und Künstler ihrer jeweiligen Generation eingewirkt haben. Als Zeitzeugen kommen verdiente Musikerinnen und Musiker wie Dolly Parton, Marty Stuart, Rosanne Cash, Willie Nelson, Merle Haggard, Wynton Marsalis und Brenda Lee ebenso zu Wort wie Produzenten, Songschreiber und sonstige Branchenakteure. Mit Blick auf den stilistischen Reichtum des Genres und seine Bedeutung für die amerikanische Kulturgeschichte erscheinen die acht jeweils rund zweistündigen Folgen nahezu knapp bemessen.
I said to Hank Williams
„Tower of Song“, Leonard Cohen
how lonely does it get?
Hank Williams hasn’t answered yet
But I hear him coughing all night long
Oh, a hundred floors above me
in the Tower of Song
Samstagnacht und Sonntagmorgen, säkulare Tanzmusik und christlicher Gospel, Sünde und Vergebung, carpe diem und respice finem, diese grundlegende Dichotomie wird bereits in den beiden Begründern der Country-Musik verkörpert: dem lebensdurstigen, rastlosen „singing brakeman“ Jimmie Rodgers und der frommen Carter Family. Ihr Schaffen wird anfangs ebenso beleuchtet wie das wilde, tragisch kurze Leben von Hank Williams, dessen Gesamtwerk auch heute noch als Krönung der Songwriting-Kunst gilt. Und tatsächlich, wenn Burns uns dazu einlädt, Zeilen wie „Hear that lonesome whippoorwill/ He sounds too blue to fly/ The midnight train is whining low/ I’m so lonesome I could cry“ noch einmal frisch zu betrachten, erscheint die Ehrung von Williams als „Hillbilly Shakespeare“ nicht vermessen. Auch in späteren Folgen werden immer wieder lyrische Schöpfungen rezitiert, die eindrücklich beweisen, wie viel Poesie, Sprachwitz und originelle Bildgewalt gerade in dieser vermeintlich so einfachen und eingängigen Volkskunst steckt. „Three chords and the truth“ eben, wie Songwriter Harlan Howard das Wesen der Country Music auf den Punkt gebracht hat.
There’s a gonna be some changes made
„The Pill“, Loretta Lynn
Right here on nursery hill
You’ve set this chicken your last time
`Cause now I’ve got the pill
Bob Wills, Bill Monroe, Johnny Cash, Willie Nelson, Buck Owens, Merle Haggard, The Nitty Gritty Dirt Band, Waylon Jennings, Kris Kristofferson, Gram Parsons und George Jones erhalten alle ihren würdigen Platz als Pioniere und Rebellen, Schöpfer und Wegbereiter. Erfreulich ist zudem, dass Burns besonderen Wert darauf legt, die Rolle prägender Künstlerinnen herauszustellen. Etwa das ingeniöse Gitarrenspiel von Maybelle Carter, Patsy Cline als vollendetste weibliche Stimme des Genres, Loretta Lynn, die mit selbstbewussten, kämpferischen Songs wie Don’t Come Home a Drinkin’ (With Lovin’ On Your Mind) oder The Pill einen immensen Beitrag zur Stärkung der weiblichen Selbstbehauptung geleistet hat. Oder Dolly Parton, die sich Mitte der siebziger Jahre aus dem Schatten ihres dominanten Duettpartners Porter Wagoner mit der Kraft ihres Songwritings, Charmes und unternehmerischen Geistes zu einer der erfolgreichsten Akteurinnen der Musikbranche entwickelte. Auch die eminente Bedeutung von Emmylou Harris für die Entwicklung der Country-Musik ab Mitte der siebziger Jahre wird gewürdigt.
I’ve always been country
„The Only One“, O.B. McClinton
though Lord my skin is black
Ein spürbares Herzensanliegen von Burns ist es, Country vor der Stigmatisierung bzw. Vereinnahmung als Soundtrack rückständiger weißer Reaktionäre zu bewahren. Schon die Wurzeln des Genres sind, wie Banjo und Fiddle veranschaulichen, hochgradig hybrid. Anders als es die aufstrebende Plattenindustrie seit den zwanziger Jahren zu Marketingzwecken vorsah, hörten Weiße nicht nur Country und Caruso und Schwarze nicht nur Blues, Jazz und Gospel. Jimmie Rodgers nahm 1930 seinen Blue Yodel No. 9 mit Louis Armstrong an der Trompete auf. Und Ray Charles hat mit seinem Album Modern Sounds in Country Music aus dem Jahr 1962 in den Worten von Willie Nelson „mehr für die Country-Musik getan als jeder andere“ – jedenfalls für ihre kommerzielle und kulturelle Breitenwirkung.
Dankenswerterweise werden in der Dokumentation zudem auch immer wieder Protagonisten gewürdigt, die selbst Country-Music-Liebhabern nicht unbedingt geläufig sein dürften. A.P. Carter etwa wurde in den frühen dreißiger Jahren von Lesley Riddle, einem schwarzen Gitarrenspieler, bei seinen Erkundungsreisen durch das Land begleitet, auf denen er nach neuen Songs für das Repertoire der Carter Family suchte. Der schwarze Mundharmonikaspieler DeFord Bailey war Gründungsmitglied der Grand Ole Opry und gehörte in der Zeit von 1927 bis 1941 zum gefeierten Stammpersonal dieser legendären Radioshow aus Nashville. Der afroamerikanische Blues-Musiker Rufus Payne brachte dem jungen Hank Williams Akkorde bei und trug dazu bei, dass dieser seinen ureigenen Ausdruck aus der Hillbilly-, Folk- und Blues-Tradition formen konnte. Der schwarze Fiddle- und Gitarrenspieler Arnold Shultz unterstützte Bill Monroe, den Vater des Bluegrass, zu Beginn seiner Karriere und bereitete mit seiner Spieltechnik auch solchen Gitarrenvirtuosen wie Chet Atkins, Merle Travis und Doc Watson den Weg. Kein Wunder also, dass Chuck D. von Public Enemy Country Music von Ken Burns auf Twitter nachdrücklich empfiehlt.
He’s a drug store truck drivin‘ man
„Drug Store Truck Drivin‘ Man“, The Byrds
He’s the head of the Ku Klux Klan
When summer rolls around
He’ll be lucky if he’s not in town
Country Music blendet die reaktionäre Seite der Branche nicht aus, betont sie allerdings auch nicht übermäßig. Man erfährt, dass die Hautfarbe des schwarzen Country-Sängers Charley Pride im Radio und auf Albumcovern zunächst unerwähnt blieb, um die Hörerschaft nicht zu verschrecken. Loretta Lynn sollte ihn bei einer Preisverleihung nicht umarmen (sie tat es trotzdem). Und den Song Green Green Grass of Home durfte er nicht aufnehmen, deutete die Textzeile „Down the road I look and there runs Mary/ Hair of gold and lips like cherries“ doch auf ein blondes Mädchen als romantisches Objekt des Interpreten. Die altbekannte Kontroverse um Merle Haggards Anti-Hippie-Hymne Okie from Muskogee wird pflichtschuldig angerissen. Dass Irma Jackson, Haggards Song über eine Liebesbeziehung zu einer Schwarzen, lange von seinem Label zurückgehalten wurde, bleibt hingegen unerwähnt. Zur Frage der politischen Verortung führt der Historiker Bill Malone aus, Country sei eigentlich überwiegend apolitisch; aber wenn er politisch werde, dann sei er populistisch, gegen Banken und Intellektuelle gerichtet. Die vielen musikalischen Solidaritätsadressen, die in den sechziger Jahren zur Unterstützung des Vietnamkriegs aufgenommen wurden, seien dem Konservatismus des Milieus geschuldet: Man sei nicht für den Krieg gewesen, sondern gegen die Gegenkultur. Als die kalifornischen Psych-Folk-Rocker The Byrds 1968 nach den Aufnahmen zu ihrem bahnbrechenden Country-Rock-Album Sweetheart of the Rodeo in Nashville in der Grand-Ole-Opry-Show im Ryman Auditorium auftraten, ernteten sie vom Publikum nur Hohn und Argwohn. Nach einem ebenso feindseligen Empfang in der Radioshow des Country-DJs Ralph Emery schrieben sie sich mit Drug Store Truck Drivin‘ Man den Frust vom Leib.
I wear the black for the poor and the beaten down
„Man in Black“, Johnny Cash
Livin‘ in the hopeless, hungry side of town
I wear it for the prisoner
who has long paid for his crime
But is there because he’s a victim of the times
Wenn Ken Burns es vorzieht, in Country Music keinen investigativen Ansatz zu verfolgen oder kontroverse Interviews zu führen, dann dürfte dies seinem Anliegen entsprechen, die Kultur als Mittel und Ausdruck einer nationalen Versöhnung über alle ethnischen, sozialen und geografischen Grenzen hinweg zu verstehen – ganz im Sinne der Beobachtung, die Willie Nelson machte, als bei seinen in Austin, Texas, veranstalteten Open-Air-Festivals Anfang der Siebziger Rednecks und Hippies aufeinander trafen: „Die sind da draußen, trinken Bier, rauchen Joints und merken plötzlich, dass sie sich eigentlich gar nicht hassen.“ Das wirkt bisweilen sicherlich recht harmonieselig, ja staatstragend. Statt einer kritischen Auseinandersetzung mit fragwürdigen Protagonisten oder Inhalten feiert Country Music lieber seine Helden. Dass Johnny Cashs Biografie als wesentlicher erzählerischer Faden dient, der sich durch die Episoden zieht, ist insofern konsequent. Denn Cash, der Mann in Schwarz, war in all seiner Widersprüchlichkeit die wohl faszinierendste und wirkmächtigste Ikone und Integrationsfigur der Country-Musik. Ein großer Songwriter und unverwechselbarer Stilist, der von seinen frühen Rockabilly-Aufnahmen über Country, Gospel, Folk und Bluegrass bis hin zu seinem eklektischen Alterswerk eine enorme Bandbreite musikalischer Formen ausfüllte. Ein getriebener Suchtmensch und unbeugsamer Rebell, freigeistig und tiefreligiös, der vor Präsidenten und Gefängnisinsassen spielte und sich unermüdlich für die Schwachen einsetzte. Insofern kaum verwunderlich, dass der größte Skandal in der Geschichte der Country-Musik, der in der Dokumentation empört verhandelt wird, die Entscheidung des Plattenlabels Columbia war, Cashs Vertrag Mitte der achtziger Jahre nicht zu verlängern.
Somebody told me, when I came to Nashville
„Are You Sure Hank Done It This Way“, Waylon Jennings
‚Son, you finally got it made
Old Hank made it here
and we’re all sure that you will’
But I don’t think Hank done it this way
Die Revue der prägendsten Köpfe und Ereignisse der Country Music-Geschichte durch die Dekaden wirkt schlüssig, birgt für Genre-Connaisseure aber, zugegeben, wenig Neues. Die biografischen Vignetten einzelner Künstlerinnen und Künstler orientieren sich vor allem an ihren großen Erfolgen beziehungsweise an der für die Geschichtsschreibung relevantesten Phase. So bleiben George Jones’ essenzielle Aufnahmen der fünfziger und sechziger Jahre unterbelichtet. Bei Willie Nelson hätte man sich vor dem kommerziellen Durchbruch mit Red Headed Stranger auch Erwähnungen seiner beiden exzellenten Atlantic-Alben Shotgun Willie und Phases and Stages gewünscht. Der künstlerische Status des texanischen Songwriters Townes Van Zandt macht sich sicherlich nicht nur an Pancho and Lefty fest. Bedeutende Namen wie Johnny Horton, Marty Robbins, Don Gibson, Gene Clark, Glen Campbell, Mickey Newbury, Lucinda Williams, Alison Krauss, Uncle Tupelo oder Cowboy Junkies tauchen erst gar nicht auf. Und bevor das Genre Mitte der neunziger Jahre durch die Alternative-Country-Bewegung um Acts wie Will Oldham, Whiskeytown, Gillian Welch, Jayhawks oder Bright Eyes einen neuen Energiestoß erhielt, endet der gesetzte Zeitstrahl. Platz für weitere acht Folgen also, mindestens.
Die souveräne Songauswahl, das faszinierende Foto- und Filmmaterial und die kohärente Einbettung des Narrativs in die Zeitgeschichte genügen indes, den Funken der Begeisterung für diese immens reiche, tröstende und beglückende Musik mit jeder Folge neu zu entfachen. Und gerade in der letzten Episode, die die Zeit von 1984 bis 1996 abdeckt, kann der traditionelle Fan vielleicht noch die eine oder andere neue Entdeckung machen. Wenn etwa Vince Gill auf der Trauerfeier für George Jones seinen musikalischen Abschiedsgruß Go Rest High On That Mountain vor emotionaler Ergriffenheit kaum zu Ende spielen kann, beschlägt einem auch als unvorbereiteter Zuschauer die Brille schnell von innen. Umso freudiger wiederum die Begegnung mit dem Musikvideo zu Country Boy des Saitenvirtuosen Ricky Skaggs, in dem die damals 74-jährige Bluegrass-Legende Bill Monroe gemeinsam mit schwarzen Breakdance-Kids durch einen New Yorker U-Bahn-Wagen steppt. Hier jedenfalls ist Ken Burns’ Utopie von der Musik als generationsübergreifende, farbenblinde, alle Grenzen und Vorurteile überwindende Macht schon Wirklichkeit.