André Malberg ist Autor des Filmblogs Eskalierende Träume. Für WEIRD schaut er sich Angela Schanelecs Berlinale-Film „Ich war zuhause, aber…“ an. Viele Vorwürfe waren nach seiner Premiere über ihn ergangen: Der Film sei publikumsfeindlich, gar klassenbewusst, schrieb zum Beispiel der Freitag. Artechock.de nannte ihn arrogant. André widerspricht.
Tiere, die als Menschenhandlungen besetzte Bewegungsabläufe durchspielen, stehen im Zentrum der ersten und letzten Minuten von Angela Schanelecs aktuellem Film „Ich war zuhause, aber…“. Ein Hund, der einen erlegten Hasen verzehrt, räumlich erhöht auf einem Untergrund, der mehr begehbarer Esstisch denn Holzbühne ist. Bei ihm im zerrütteten Eigenheim ein Esel, der sich stoisch aus dem Fenster glotzend in andere Welten hineinzuträumen scheint. Die Mahlzeit ist kredenzt, es folgt umgehend der Zusammenbruch – schwer atmend ruht der Hund zu Hufe des Freundes. Unangenehme Assoziationen weckt Schanelec bereits lange bevor wir herausfinden, dass ihr Film eigentlich von Menschen handelt – an dysfunktionale Familiengeflechte, an Aufopferung, an Leid potenziert auf engstem Raum. An eine alleinerziehende Mutter (unverkennbar auch zu jeder Minute als Schanelec selbst, deren vor zehn Jahren verstorbener Partner sie in deckungsgleicher Grundsituation zurückließ), ihre zwei Kinder, den älteren Sohn, der eine Woche verschwand und zum Auftakt wiederauftaucht. Und doch, nie sind sie anthropomorph, reines Spiegelbild der Menschen gar, diese Tiere, schlimmer ist es, pessimistischer: zwei verschiedene Spezies frei von signifikanten Unterschieden. Mehr als Bressons vielzitierter Esel sind sie Fregoneses Kuh, die in „Seven Thunders“ (1957) mit ihrem Herrn hinterm Badezimmerfenster eines Marseiller Aussätzigenquartiers eingepfercht schwerer und schwerer von diesem differenzierbar wird.
Wahrlich, es geht ein großer Gleichmacher um in „Ich war zuhause, aber…“: Das Kümmern um eigene wie familiäre Instabilitäten mentaler Natur. So klar ausformuliert findet man dessen Auswüchse selten, alles verkehren sie ins Prekäre, die gesellschaftlich festgeschriebenen, zuvorderst allerdings selbst als wahr wahrgenommenen Grenzen zwischen den Menschen werden einfach aufgelöst. Eigenwillige Kleidungsspiele treibend platziert Schanelec fehlangepasste Adidas Sambas an den Füßen unter gediegenen Blusen und Röcken; Jogginghosen, ein verirrt wirkendes Poloshirt von Lacoste dominieren mit gut sichtbaren Markenemblemen so manche Aufnahme. Das Stilbewusstsein ist eine Finte, eine bunte Zusammenstellung an Äußerlichkeiten, die gemeinhin als Ausdruck dieser oder jener Lebens- wie Bildungssituation gelesen werden. So wortgewandt wie intelligent die Protagonistin (Maren Eggert) vom Theater redet, so proletarisch fällt ihre kleine Wohnung aus, die Kleidung, ganz Berlin. Vogelgezwitscher, exaltiere Belanglosgeräusche, ein Verweilen bis Erstarren in Raumauszügen, die eigentlich akribisch abgesteckte Areale sind. Nichts wirkt rein architektonisch wie ein Gefängnis und alles läuft zu einem solchen zusammen. Innenareale, Außenareale, kaum nennenswerter Unterschied in der Verweildauer von Kamera und Figuren, Wabern im Gallertsee. Der Kern dieser ästhetischen Brüche wie Kontinuitäten zwischen Ton und Bild liegt anderswo. An der gleichen Schnittstelle, an welcher auch die Tiere der Einleitung sowie der verhinderte Fahrradverkäufer (Alan Williams) mit dem elektronischen Stimmenersatz andocken: überleben, durchkommen, Alltagssorgen.
Alltag. Vieles, was in der Kritik als ganz und gar fremd des Durchschnittsdeutschen, als abseitig und weltfremd wahrgenommen wurde, ist im Grunde genau dies. Möglicherweise sagt dieser Furor ja still und heimlich mehr darüber aus, wie die deutsche Kritik die Wichtigkeit der eigenen Arbeit und die Aufnahmefähigkeit der Zuschauenden einordnet als über Schanelecs Weltbild, das sich nur mit Vorsatz aus ihrem Film konstruieren lässt. Ihr geliebtes Theater erkennt sie jedenfalls als banalste Alltäglichkeit, nicht als hehren Lebensstandard freilich, sondern im vollen Bewusstsein der eigenen Unbedeutsamkeit. Monotone Kopie, verzweifeltes Nachahmen dessen, was man jahrelang als gesunder Mensch mit Freuden aufgesogen hat, Rollen, die man allein schon der kindlichen Körpermaße geschuldet nicht adäquat auszufüllen vermag, mehr sind die in die Narration eingeflochtenen Schauspielübungen gar nicht.
Fassbinders prekäre Helden zogen in „Liebe ist kälter als der Tod“ (1969) ihren einstudierten Gestus gegen die unnachgiebige Härte der Welt aus den Gangsterfilmen der Kinos, soll es etwas weniger abgedroschen sein, kamen ihnen die Rabauken aus Peter Hausers Hofbauer-Kongress-Funkelschatz „Vulkan der höllischen Triebe“ (1968) noch zuvor. Hier findet sich dieses Motiv schlicht angepasst auf ein zumindest bildungstechnisch bessergestelltes Milieu wieder, das eigene, daran lässt Maren Eggerts geradewegs schmerzhafte Darbietung in „Ich war zuhause, aber…“ auch ohne Kenntnis der Schanelec‘schen Biografie kaum Zweifel. Selbsthäutung statt Fremderklärung. Verschiedene Menschen durchleben eben auch verschiedene Alltage … und züchten dabei im Herzen das gleiche Leid heran. Und an diesem verwundbarsten Ort trinkt die Regisseurin Schwesternschaft mit ihrem Publikum. So trivial ist die hohle Geste der künstlerischen Reproduktion geworden, dass jedwede Aussagekraft über existente wie von außen herbeigeschriebene Standesunterschiede keinen Platz mehr findet. Es spricht für sich, dass Schanelec selbst gar keine Zuordnungen vornimmt. Wer hat eigentlich angefangen damit, so genau zu wissen, dass Fahrradverkäufer Herr Meissner kein heruntergekommener Akademiker sein kann? Der Film selbst gibt solcherlei Zuschreibungen nicht her. Sprache, ihre geschliffene Anwesenheit, mehr noch allerdings ihre Abwesenheit, bestimmt, wie der Mensch erfasst wird – offenkundig jedoch auch ihre ins unverkennbar Künstliche übersetzte Entkörperung. Spiegelt sich irgendetwas Gesellschaftliches, nicht rein Emotionales, in „Ich war zuhause, aber…“, so ist es die Voreingenommenheit mancher Betrachtender.
Im Grunde ist die gesamte Dialogebene eine einzige Lüge, Form, nicht Inhalt der Gespräche entscheidend, ist sie, wenn man so weit gehen mag, ein Zerrbild dem anderen Ende der Bildungsskala zugeordneter Nachmittagssoaps, deren Konversationssystem auf erstaunlich ähnlichen Prämissen fußt. Startschwierigkeiten, nicht wissen, wohin die Reise gehen soll, das unfreiwillige Treiben im Fluss der Peinlichkeiten, schließlich fast alternativlose Eskalation oder verfestigte Unaufrichtigkeit. Im entlarvendsten Moment des Filmes rudern Maren Eggert und Alan Williams ausgiebig um die 80 Euro herum, die sie für sein fälschlich als voll funktionstüchtig angepriesenes Fahrrad zahlte. Immerfort weitere Einwürfe und Argumentvorwände aufbringend manövriert man solange durch verbale Tretminenfelder, bis niemand mehr aussprechen muss, dass es genau diese 80 Euro sind, die für sie und ihn gerade die Welt bedeuten. Das ist dann der Unterschied zwischen Angela Schanelec und RTL II. Brückenbau im Wesentlichen statt Zerspanung nebensächlicher Unterschiede. Schwer zu spezifizierendes Verständnis, daraus resultierend jedoch auch fast grenzenlose Wärme für Probleme, die wohl nicht mehr erkennt, wer im Leben allem Anschein nach nur mehr Kunstdebatten zu meistern hat. Schanelec muss nichts ausformulieren, in einen sozialdidaktischen Rahmen einbetten, denn der abgerissene Nerv liegt längst offen zutage. Vertrauen ins Wiedererkennen – das ist publikumsfreundlich. „Ich war zuhause, aber…“, ein doch überraschend konkretes Bild für einen unkonkreten Daseinsschwebezustand, der fast jeden ereilen kann. Tiere, Menschen, Bildungsferne und Bildungsnahe, auch Filmkritiker?
Vielfältigste Vorwürfe musste „Ich war zuhause, aber…“ bereits unmittelbar in Folge seiner Berlinale-Prämiere im vergangenen Februar über sich ergehen lassen. Verkopft sei er, verrätselt, das kennt man schon, doch auch arrogant, in der Tendenz publikumsfeindlich, klassenbewusst gar. Anschuldigungen, die an der lakonischen Regisseurin und ihrem Film weitestgehend abperlen und doch auch gerade dadurch zu abermaligem Widerhall gelangen. Ist wirklich etwas an ihnen dran? Eher nicht, denn gerade Schanelecs geheimniskrämerische Herangehensweise an die Inszenierung ist es letztlich, die zur Identifikation mit ihren Figuren einlädt, Raum lässt für jeden, nun ja, fast jeden, all jene genauer, die auch Raum begehren. Und gerade an diesem Begehren scheint es Teilen des deutschen Filmrezeptionswesen mitunter zu mangeln. Gelassen einen Platz nehmen in filmischen Räumlichkeiten, die nicht bloß Klassen, nein ganze Spezies vermischen, durchrütteln, letztlich in der Definition auflösen, ganz so, wie sie auch mit der Erwartungshaltung an einen bildungsbürgerlich-akademischen Spielfilm verfahren.