Ein feinfühliges Meisterwerk über das Ertasten der Dunkelheit: In „Occhiali neri“, seinem ersten Film seit zehn Jahren, taucht Dario Argento in den Empfindungsraum eines klassischen Melodrams ein.
Die Finsternis, die sich über die Sonne legt, hüllt die Menschen, die zu ihr hochblicken, erst in einen gelblichen Schimmer, dann in einen dunkelblauen Farbton, der schon bald kein Licht mehr widerspiegelt. „Occhiali neri“, Dario Argentos erster Film seit einem Jahrzehnt, beginnt mit einem Taumel über Straßen und durch Baumwipfel in schnellen Bewegungen, die das Bild immer wieder einer stabilen Schärfe entreißen. Während einer Sonnenfinsternis, die ganz Rom im entrückten Bann zu halten scheint, verschlingt die Kamera alles, bleibt nirgendwo hängen, so als wolle sie noch einmal alles sehen und aufzeichnen, bevor es in Dunkelheit gehüllt wird. Insbesondere in den ersten 15 Minuten ist „Occhiali neri“ auch ein Film, der vorangetrieben wird durch Musik, dem an post-industrielle EBM angelehnten Score von Arnaud Rebotini, den die Dialoge der Figuren eher klanglich akzentuieren, als dass sie wirklich eigene Bedeutung besitzen würden.
Die Geschichte folgt erst einer Prostituierten, die bald stirbt, dann einer anderen, Diana (großartig: Ilenia Pastorelli), die bald nichts mehr sieht: Bei einem Autounfall wird durch Druck auf die Wirbelsäule die primäre Sehrinde im Brodmann-Areal beschädigt, und Diana erblindet. Die Augen Dianas im Close-up, ihre Augen beim Sehen, ihre Augen, wie sie von anderen angeblickt werden, schließlich Blicke, die nur noch empfunden, nicht mehr gesehen werden können: Das ist die eine Hälfte von „Occhiali neri“. Ein Junge, Chin (cute: Xinyu Zhang), ist der andere Überlebende des Unfalls, seine Mutter stirbt. Erst besucht ihn Diana im Waisenhaus, dann flieht Chin und versteckt sich bei ihr. Und noch jemand: Derjenige, der Dianas Augenlicht zerstörte, will nun den Rest von ihr vernichten. Das ist die andere Hälfte des Films.
Dabei sucht „Occhiali neri“ immer wieder einen neuen Rhythmus, erzählt mal rührend intim, mal obsessiv drängend. Er mündet in der letzten halben Stunde in eine ekstatische Flucht, bei der Dario Argento einige seiner schönsten und konzentriertesten Set-Pieces nicht nur im Spätwerk gelingen: durch Gänge in Kellergewölbe, durchs Gebüsch in den Wald, durch Schilf in einen Fluss, in dem sich um Dianas Füße Schlangen winden, als seien sie die einzigen Lebewesen im Film, die sich frei bewegen können.
„Occhiali neri“ ist ein vor 20 Jahren begonnenes Projekt – „während ich endlich eine Phase der Versöhnung mit meinen Albträumen erlebte“, so Argento in einem Interview –, das seinerzeit am Bankrott eines beteiligten Financiers scheiterte. Asia Argento, ursprünglich als Hauptdarstellerin gecastet, spielt nun eine kleinere Rolle: eine Ausbilderin für Orientierung und Mobilität, ein Berufsprofil, in das der Film so sehr verliebt ist, dass Asia ein T-Shirt trägt, auf dem es als Aufschrift festgehalten ist. Als Dianas Begleiterin aus der Finsternis heraus sagt sie: Was du hier hörst, während er an uns vorbeigeht, ist ein bärtiger Mann mit Hund. Und dies, das ist eine rennende Frau mit Kopfhörern. Beim Spaziergang über die Straßen Roms werden Töne zu Bildern, Diana fragt: Aber wie unterscheide ich am Rascheln verschiedene Geldscheine, wenn ich bezahlen will?
Das mit Franco Ferrini geschriebene Drehbuch zu „Occhiali neri“ entstammt aus einer Zeit, in der Argento Rückverknüpfungen in sein bisheriges Werk mit deutlicher sichtbaren Knoten versah, mehrteilige Projekte wieder aufgriff („La terza madre“, 2009 der letzte Teil einer 30 Jahre zuvor mit „Suspiria“ und „Inferno“ begonnenen Trilogie), zu prägenden Inspirationen seiner Kindheit zurückkehrte (freisinnige Bearbeitungen von „Phantom der Oper“ und „Dracula“: Hauptwerke, die cinephil umfassender wiederentdeckt werden sollten) und Motive früherer Filme variierte. Bereits 1971 bewegte sich in Argentos „Il gatto a nove code“ ein anderer Erblindeter, Karl Malden, durch eine aus Aufnahmen von Turin und Rom montierte Stadt.
Aber war „Il gatto a nove code“ in seiner Konzentration auf die Orientierungsskills eines Blinden noch einer von Argentos tighteren, äußerlich aktionsgetriebenen Filmen, so taucht „Occhiali neri“ als feinfühliges Meisterwerk über das Ertasten der Dunkelheit vollkommen in den übersteigerten Empfindungsraum eines klassischen Melodrams ein: Bewegung und Handlung als Ausdruck von Sentiment und Mitgefühl. In seinem 19. und hoffentlich noch nicht letzten Kinofilm zeigt Dario Argento nicht Figuren, die sich allein den emporgekrochenen Untiefen von jemand anderem stellen, sondern sagt: Jede Form des Nicht-Sehens braucht etwas, das einen an die Hand nimmt und mit sich zieht.