Berlinale Special
Ein Wahrsager möchte die Götter herausfordern und beschwichtigen, doch die lassen sich auf ein Spiel nicht ein. Auf einem Friedhof in Hongkong vollzieht er an einer Frau, die sich von einem durch die Stadt wütenden Serienmörder verfolgt sieht, ein Ritual. In einem Plastiksack, der so lose gebunden ist, dass die Frau genügend Luft bekommen kann, vergräbt er sie unter der Erde: Wer zeremoniell bestattet wurde, kann nicht mehr sterben, weil er bereits als tot gilt, so die Idee. Ein Regenguss weicht jedoch die Erde des Friedhofs auf, zerreißt das improvisierte Grabmal, und die Frau ersäuft beinahe in einer Flut aus Schlamm. Besänftigen lässt sich auf diese Weise wohl niemand. Andererseits: Was heißt hier schon Götter? Der Wahrsager, er wird im Soi Cheangs „Mad Fate“ stets nur der Meister genannt werden, was durchaus etwas Archetypisches haben darf, so wie der Serienkiller lediglich als der Killer bezeichnet werden wird, beschwört Gottheiten, nennt es Schicksal und Karma, aber die Zeichen und Visionen, die er empfängt und deutet, verweisen weder auf ein tatsächliches religiöses System noch auf eine halbwegs zusammenhängende Privatmythologie. Der Meister ist ein isolierter, einsamer Wahnsinniger, dem niemand mehr helfen kann, der aber allen zugleich und zu jeder Zeit behilflich sein will.
Siu Tung ist auch ein Loner, ein katatonischer Slacker, an dem das einzig lebendig Scheinende die hinter einer strähnigen Matte hervorlugenden, blutig glänzenden Augen sind. Als sie Kinder waren, schlitzte er seiner Schwester das Gesicht mit Küchenmessern auf, kam on und off in Gefängnisse, ist angetrieben von einer unkontrollierbaren Begierde, jemanden umzubringen, legt sich in der Regel aber nur mit Katzen an (die sich in wunderbar agiler CGI-Form als erfreulich wehrsam erweisen. Als Meisterregisseur versteht Soi Cheang natürlich, wer die wahren Königinnen urbaner Räume sind). Während eines dieser die Stadt komplett ertränkenden Regengüsse, wie sie in „Mad Fate“ immer wieder durch die Geschichte strömen und sie in Sturzbächen mit sich forttragen, fährt Tung Essenslieferungen aus. Eine im Regen verwischte Adresse bringt ihn an einen falschen Ort, bzw. das Schicksal an die richtige Stelle: Im Hausflur sieht er zu, wie ein Serienmörder eine Frau, es ist die zu Beginn des Films nicht Begrabene, tötet. Dadurch kommt Siu Tung in Kontakt mit dem Wahrsager, und bei diesem gerät, was eh schon ein kaum zu bändigendes Knäuel aus undeutlichen Ahnungen und angstvollen Vorsehungen war, vollends in Overdrive: Unter körperlichen Verrenkungen, nicht mehr zu beherrschenden Ticks der Glieder und muskulären Spasmen wird für ihn alles zum Zeichen, jede Hauswand und jedes mit Urin gefüllte Glas zur schicksalhaften Herausforderung.
Zwar ist Choi Seang einer der qualitativ konsistentesten Filmemacher in Hongkong der letzten zwei Jahrzehnte, aber kaum einer, der sukzessive eine Karriere aufbauen konnte. Seine Filmografie ist geprägt von Disruptionen, Neuanfängen, Tonart- und Genrewechseln, panasiatischen Produktionsverbindungen. Am bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten sind sicherlich bislang die drei unter seiner Regie entstandenen Teile des „Monkey King“-Reboots, die als Potboiler für eine Handvoll variierender Filmstars aber kaum seine Handschrift erkennen ließen. Jenseits des Mainstreams für den größeren chinesischen Markt realisierte er zuletzt ein Projekt, das in vielfacher Weise eine Radikalisierung seiner bisherigen Arbeit mit Polizeifilm- und Thrillerstoffen darstellte: „Limbo“, 2021 nach einem längeren Kampf unter finanziell eher prekären Bedingungen entstanden, zeigte in graustem Schwarz-Weiß Hongkong als eine Stadt, die im Müll versank und alle mit sich riss. Die, die sich nicht wehren konnten, sofort, die, die es zumindest versuchten, später umso vehementer. In „Mad Fate“ ergeht es niemandem besser, aber Hongkong, ein kleiner Zug von langen Straßen und Mietshäusern, ein Imbiss, eine Leichenhalle, scheint und blinkt in geradezu obszöner, zum Untergang einladender Farbschönheit: pinke Blumenblüten und grüne Wolken, bläuliche Tauben und ein stolzer, rotbraun getönter Hahn. Alles ein verlockendes Zeichen des Schicksals, alle davon in Bann gezogen.
Finanziert durch Johnnie Tos Milkyway Image, eine der letzten wirklich unabhängigen Produktionsfirmen in Hongkong, die noch kommerzielle Zugkraft besitzt, erinnert der Film dabei in visueller Eigensinnigkeit und idiosynkratischer Fabulierwuseligkeit an die schönsten Arbeiten des Unternehmens: eine so konzentrierte wie letztlich kurze Phase, in der To mit dem Drehbuchschreiber und Regisseur Wa Ka-Fai bei rund einem Dutzend gemeinsam inszenierter Filme die Trennwände zwischen mindestens so vielen Genres für einen flüchtigen Moment aufriss. Indem Soi Cheang in „Mad Fate“ motivisch und formal auf Meisterwerke wie „Running On Karma“ und „Mad Detective“ verweist, Geschichten von Polizisten und Priestern, die sich selbst dem Wahnsinn entreißen wollen, indem sie alle anderen mit hinabziehen, beschwört er noch einmal mit souveräner Finesse diese so seltsame wie zu lange schmerzhaft vermisste Mischung aus professionellem Inszenierungsgeschick und launig-seltsamen Erzählvolten. So ist der Film, in dem bis zuletzt niemand etwas Gutes erfährt, dennoch einer von Cheangs leichtesten und komischsten, geradezu eine Buddy-Komödie im Gewand eines Serienkillerthrillers. Wer sein Leben verändern möchte, heißt es darin, muss zunächst einmal einfach weiterleben. Nur das ist Schicksal.