Prozessionen des Begehrens: „Spell (Dolce mattatoio)“

Dieser Beitrag gehört zu unserer fünfteiligen Berichterstattung zum Festival des italienischen Genrefilms „Terza Visione“.

Die Proletarier müssen nicht erregt sein, sie haben Angst vor Sex und Fantasie: Hat Lenin das wirklich gesagt? Ein Fotograf wiederholt es, er ist Mitglied der kommunistischen Partei in Italien, vor allem aber ist er desillusioniert. Er sagt: Vielleicht ist das, was wir brauchen, um uns zu befreien, etwas anderes. Vielleicht brauchen wir Fantasie, Verspieltheit, Sex. Wie erlangt er wieder die Kontrolle über etwas, das sich ihm entzieht und für das er nur die Begriffe kennt? Er arbeitet an Bildcollagen: Anatomische Zeichnungen aus einem medizinischen Buch treffen auf Mode-Snippets aus Zeitschriften, Lenins Kopf landet zwischen den Schenkeln in Gustave Courbets „L’origine du monde“. Das ist das eine.

Ein Junge steht vor dem Eingang einer Metzgerei und beobachtet andere Jugendliche, die sich auf dem Marktplatz treffen: Lippen berühren und küssen sich zögerlich, Beine schieben sich auf dem Sitz eines Mopeds nach vorne, Finger tasten sich verstohlen entlang der Körper. Auf einer provisorischen Bühne mitten auf dem Platz spielen und schreien Kinder, Männer tragen einen Sarg in den Laderaum eines Autos, auf eine Fahne wird ein Totenskelett genäht. Alles ist gleichzeitig, alles ist jetzt, es ist Sommer und hell, es ließe sich denken, alles gehöre zusammen, aber der Junge nimmt nicht daran Anteil. Obwohl er draußen steht, denkt er sich zurück nach drinnen ins Schlachthaus. Für das, wofür er die Begriffe nicht kennt, weiß sein Körper eine Bewegung: Er penetriert zärtlich eine herabhängende Rinderhälfte. Das ist das andere.

Das „Terza Visione – 6. Festival des italienischen Genrefilms“ im Kino des Deutschen Filminstitut & Filmmuseum zeigte vom 25. – 28. Juli 2019 populäre Klassiker und obskure Entdeckungen des italienischen Genrekinos der 1950er bis 80er Jahre, von Haunted House Horror, Wüsten-Western und venezianischer Bordellerotik bis zum Schlager- und Discofilm. Drei WEIRD-Autoren berichten von ihren intensivsten, beglückendsten und verstörendsten Eindrücken. #terza-visione

Süßes Schlachthaus, so heißt Alberto Cavallones „Spell“ auch, als Zusatz in Klammern. Gedreht wurde er in Castelnuovo di Porto, einem Dorf in der unmittelbaren Nähe von Rom, wohin Cavallone in den 70er-Jahren für ein halbes Jahrzehnt zog. Es faszinierten ihn die immersiven lokalen Riten, karnevalsähnliche Prozessionen, die das Leben strukturierten, orgiastische Ausnahmezustände zum Los- und Verlassen des eigenen Körpers als Kompensationsutopien für den erdrückenden Alltag in einer als sozial schwach gebrandmarkten Gegend. Das ist der erzählerische Rahmen von „Spell“: ein regionales Fest, das vorbereitet wird und in dessen rauschhaften Tanz- und Umzugsparaden sich am Ende alle Darsteller verlieren und zu befreien versuchen. Der Kommunist und seine psychisch labile Frau, der Metzgersjunge, eine sexuell unerfüllte Bauersfrau und ihr gewalttätiger Mann („deine Hände sind für das Pflügen des Bodens und das Töten von Hühnern“), ein Mädchen, das schwanger, ein anderes, das Prostituierte wird: Würden ihre Geschichten für sich stehen, wären sie mehr Typen und exemplarische Fallbeispiele eines soziologisch dünkelhaften Kinos denn ausformulierte Figuren. Für Cavallone werden sie zu transsubjektiven Eintrittsportalen für mal sich stauende, mal pulsierende Lebensströme, und je mehr sich „Spell“ ihnen überlässt, die Kontrolle darüber verliert, welche Tür in die Erzählung sich öffnet, welche sich schließt, desto wilder, durchlässiger und idiosynkratischer werden die Verbindungen zwischen ihnen: Eine Zunge im Close-up, die penetrierend in einen Mund eindringt, trifft auf dokumentarisch anmutende Aufnahmen des Festes, in denen Männer mit verbundenen Augen mit einem Stock auf eine von oben herabhängende Piñata zielen. Der Kopf eines Huhns, das erwürgt wird, verwandelt sich in das lustverzerrte Gesicht einer masturbierenden Frau. Die Kamera rückt immer näher an Körper, die Darsteller tauchen ein und unter, sind bald nicht mehr Mittelpunkt des Bildes, das zunehmend wimmelnder wird, in den Farben überbordender und schwerer deutbar. Alles soll Einlass finden, alles kann entstehen, sich verbinden, mit- und abfließen, Platz hat als vitalistisch-animalische Intervention selbst eine Kälbergeburt, wie sie das Kino sonst nur noch in Abdellatif Kechiches film maudit „Mektoub, My Love: Canto Uno“ geschenkt bekam.

Wie bringt man die Gesellschaft, in der man draußen lebt, und die Begierden, Wünsche und Fantasien, die innen in einem brodeln, in Übereinkunft? Cavallone sagt: durch Sex und durch Tanz, und wenn es nicht reicht, durch einen gemeinsamen Akt kompletter körperlicher Transgression, den die Zeit, in der „Spell“ gedreht wurde, sich als notwendigen Teil einer alles verändernden Revolution erträumte. Wofür die Welt noch keinen Platz gefunden zu haben meint, erfindet das Kino ein Bild.

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